Hilfe, Mathe! Wie du dir das berüchtigte Fach selbst beibringst. – Vom Leben lernen
Ich erzähle immer gerne von all den Dingen, die man auf Reisen wie von selbst lernt – Englisch, Landeskunde, Fotografie…
Leider gehört Mathematik nicht dazu. Genauso wie Physik, Chemie und Latein hat Mathe die unangenehme Angewohnheit, dass man es eigentlich nur aus trockenen Büchern lernen kann. Klar, Brüche und Prozentrechnen kann man noch „spielerisch“ beim Kuchenbacken und Basteln lernen, aber der Stoff der Oberstufe hat nun wirklich gar keine Anwendung im wirklichen Leben mehr.
Hilfe, das ist alles Chinesisch!
Wenn man sich vornimmt, den Mathestoff als externer Schüler selbstständig zu pauken, wird man erst einmal beim Blick in das viel zu dicke Lehrbuch ein mulmiges Gefühl im Magen kriegen. Es ist nicht so, dass man die Antworten nicht weiß – die Frage ist eher: was zur Hölle sind das für Zeichen, Linien und Ausdrücke?? Der Berg an Stoff scheint unbezwingbar, man möchte am liebsten einfach das Buch wieder ins Regal stellen und es vergessen.
Ich hatte das Mathelernen ewig vor mir hergeschoben. Ich wusste gar nicht wo ich anfangen sollte, deswegen ließ ich es lieber erst mal ganz bleiben. Irgendwann war die Zeit aber gekommen. Die Prüfungen waren nicht einmal mehr ein Jahr entfernt und ich musste nicht nur den kompletten Stoff von drei Schuljahren erlernen, ich hatte auch den Stoff der vorherigen Schuljahre wieder zur Hälfte vergessen.
Zuerst mal eine Grube ausheben und ein ordentliches Fundament bauen!
Ich krempelte also die Ärmel hoch und machte mich ran an die Arbeit. Mathe war das erste und für lange Zeit auch das einzige Fach, in dem ich mich konkret auf die Prüfungen vorbereitete, denn dort fehlte noch alles.
Zuerst musste ich die Grundlagen wieder auffrischen – Gleichungen lösen, einfache Funktionen aufstellen, Trigonometrie – denn ohne ein festes Fundament lässt sich nichts nachhaltiges aufbauen. Ich bin der Meinung, dass vor allem bei Mathe ein gutes Verständnis aller Themen wichtig ist, denn vieles baut ja aufeinander auf. Es ist wie beim Hausbau: da muss auch alles stabil sein. Man kann nicht die ersten zehn Stockwerke irgendwie zusammenstoppeln, mit schiefen Wänden und wackeligen Stützbalken, und dann erwarten, dass man auf die Weise bis ganz nach oben kommt. Jedes Thema muss sitzen, alle Lücken müssen gestopft werden. Das macht alle zukünftigen Mathelektionen um ein vielfaches einfacher, denn man muss nicht immer noch tausende Sachen auffrischen.
Lehrvideos als Schlüssel zum Erfolg
In den ersten Monaten nutzte ich ausschließlich die Khan-Academy zum Lernen. Das ist eine amerikanische Seite mit einem unermesslichen Fundus an Lehrvideos zu naturwissenschaftlichen Fächern, vor allem Mathe. Salman Khan, der „Lehrer“, der fast alle Videos macht, versteht sein Handwerk wie kaum ein anderer. Alles ist erstklassig erklärt, und zum ersten mal in meinem Leben verstand ich Mathematik wirklich, denn ich konnte mich so lange damit befassen, bis ich es beherrschte. Das ist der Vorteil daran, den eigenen Lehrplan zu bestimmen. Ich schaute die selben Videos auch gerne fünf mal an und machte etliche Übungen, das nächste Thema kam erst, wenn das letzte abgeschlossen war. Die Khan-Academy kann ich nur empfehlen, allerdings ist sie auf Englisch. Wenn man aber halbwegs sicher in der Sprache unterwegs ist, rate ich, es zu versuchen – die mathematischen Fachbegriffe hat man schnell gelernt, und der kleine Aufwand ist es wert.
Auf der Khan-Academy ist alles erstklassig erklärt. Ohne diese Videos wäre mir das Lernen sehr schwer gefallen!
So intensiv wie der Duft eines französischen Käses
Ich verbrachte teilweise sehr viel Zeit mit Mathe. Drei bis fünf Stunden pro Tag waren keine Seltenheit, sondern die Regel, und diese Intensität wirkte Wunder. In der Schule lernt man Mathe immer in einzelnen 45-minütigen Einheiten, und im Laufe der Woche kommen so gerade mal drei Stunden zusammen. Ich hatte Wochen, da lernte ich um die 25 Stunden Mathe – man muss kein Mathe-Genie sein, um da Fortschritte zu machen. Es kommt noch die Tatsache dazu, dass man auf diese Art nicht abgelenkt ist, und dadurch alles noch einmal weiter konzentriert wird.
Besonders wichtig finde ich es, viele Übungen zu machen. Um wirklich gut in etwas zu werden reicht es nicht aus, sich theoretisch einwandfrei damit auszukennen. Man muss es auch praktisch anwenden können. Je näher die Prüfungen kamen, desto mehr versuchte ich mich an alten Prüfungsaufgaben. Insgesamt simulierte ich über zehn komplette Matheklausuren, die vollen vier Stunden. Ich war dadurch so in der Routine, dass die eigentliche Klausur mir kein Kopfzerbrechen mehr bereitete. Ich hatte es ja schon so oft gemacht!
Was mache ich, wenn ich etwas nicht verstehe?
Diese Frage plagt wohl jeden angehenden Autodidakten, und selbstverständlich werden Situationen kommen, wo man etwas einfach nicht rafft. Ich habe ehrlich gesagt fast nie etwas beim ersten Anlauf wirklich verstanden, an manchen Themen musste ich mich wochenlang festbeißen, bis sie saßen. Doch das Gute an der Khan-Academy ist: man kann die Videos natürlich so oft anschauen, wie man möchte. In der Schule hat man sogar eher schlechtere Karten, wenn man etwas nicht versteht – irgendwann ist der Punk gekommen, an dem der Lehrer es nicht noch einmal erkärt und einfach mit dem nächsten Thema weitermacht.
Außerdem hilft es, wenn man bei ganz unverständlichen Themen mal ein anderes Buch sucht, um eine alternative Erklärung zu haben.
Vielleicht braucht man ein Händchen für Mathe, vielleicht nicht, doch ein Superhirn muss man auf jeden Fall nicht sein. In der Schule hatte ich immer Dreien und Vieren in Mathe, erst im Abi wurde ich wirklich gut. Ich hatte mir vorgenommen eine Eins zu schreiben und es durchgezogen. Am Ende hatte ich 14 Punkte in der Schriftlichen.
Üben, üben, üben! Das ist die goldene Regel, nur so bekommt man die wichtige Routine. Ich schrieb hunderte Seiten voll mit Matheaufgaben.
Mathe ist leicht – man braucht nur viel Zeit
Mathe ist zwar einerseits trocken und im echten Leben weitgehend irrelevant, vor allem wenn man sich weiter oben auf der Bildungsleiter befindet. Andererseits ist es aber relativ „einfach“ zu lernen, und es ist schon ein tolles Gefühl, eine aufwändige Aufgabe endlich lösen zu können.
Mathe ist „einfach“, weil es immer nur eine Lösung gibt, und einen relativ klar definierten Weg dorthin. Man muss zwar sehr viel Aufwand hineinstecken, um gut zu werden, doch man kann sein Lernen genau planen und sich selbst erstklassig kontrollieren, ganz im Gegensatz zu Fächern wie Deutsch, wo in der Prüfung ein kreatives Schaffen vom Schüler erwartet wird. Da gibt es dann etliche richtige Antworten, und man kann es zuhause bei weitem nicht so gut lernen, weil man sich selbst nicht korrigieren kann.
Ich will nicht sagen, dass man den Mathestoff in ein paar Wochenenden erlernen kann. In der Hinsicht ist es „schwer“. Aber mit etwas Zeit und Willenskraft kann es meiner Meinung nach jeder schaffen.
Meine Materialien
Ohne ein gutes Lehrbuch (oder eine Seite wie die Khan-Academy) wird man sich echt schwer tun.
Natürlich sind das die besten Bücher für ein Abi in Baden-Württemberg, dort habe ich es gemacht, denn sie haben da das Zentralabitur (darauf kann man sich viel besser selbstständig vorbereiten). In jedem Bundesland gibt es andere Regelungen und Lehrpläne, und somit auch andere Bücher.
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https://www.5reicherts.com/wp-content/uploads/2020/03/Mathelernen.jpg525700Esrahttps://www.5reicherts.com/wp-content/uploads/2021/03/Leuchtturm-o.pngEsra2020-03-17 17:40:202023-03-15 16:55:54Hilfe, Mathe! Wie du dir das berüchtigte Fach selbst beibringst.
Über die Jahre kam immer und immer wieder die gleiche Frage auf, wenn wir von unseren monatelangen Auslandsreisen erzählten: „Wie läuft das eigentlich bei euch mit der Schule? Machst du einen Abschluss?“
Nein, ich war seit Jahren nicht in der Schule, aber ja, ich habe jetzt einen Abschluss. Vor einigen Monaten habe ich in Baden-Württemberg das Abitur als externer Prüfling abgelegt. Wie das im Einzelnen ablief, will ich hier einmal erzählen. Vielleicht beantwortet es die ein oder andere Frage, die du über mein schulisches Schaffen der letzten Jahre hast.
Wer einen Abschluss will, muss zur Schule gehen. So war es in Deutschland immer gewesen und so wird es hier auch immer sein. Oder?
Nein! Es gibt auch das Schulfremdenabitur!
Was viele nicht wissen: man kann das Abitur auch machen, ohne einen einzigen Tag zur Schule gegangen zu sein. Das Schulfremdenabitur ist dem regulären Abi gleichwertig. Es ist eben nur etwa so weit verbreitet, wie Koalas in Kanada
Wer das Abitur als externer Schüler macht, legt nicht fünf Abiturprüfungen ab, wie in Baden-Württemberg üblich. Man muss sich gleich zwölf Prüfungen unterziehen. Dafür fallen allerdings die kompletten Noten, die man in den Jahren der Oberstufe zu sammeln hat, weg – man war ja nicht im Unterricht.
Auf diese Art einen Abschluss zu erlangen ist bestimmt nicht für jeden das Richtige – man muss ganz auf sich alleine gestellt, ohne Lehrer, Hausaufgaben und Klausuren den Stoff der Oberstufe aneignen, und hat im Schreiben von Prüfungen keine Erfahrung, wenn es dann hart auf hart kommt. Einigen ist diese Art des Vorbereitens aber wie auf den Leib geschneidert. Immerhin kann man in seiner eigenen Geschwindigkeit lernen und muss „nur“ die Abiturprüfungen machen. Den abwechselnden Stress und die Öde des Oberstufenunterrichts kann man sich sparen.
Wie wir zum schulfreien Leben kamen
Für mich war das genau die richtige Entscheidung, das Abitur als externer Schüler abzulegen. Bis zur zehnten Klasse habe ich (meistens) die Schule besucht, und war immer ein mittelmäßiger bis schlechter Schüler. Ich war der typische, völlig desinteressierte Jugendliche, der seine Zeit im Klassenzimmer absaß, wie ein Inhaftierter seine Zeit hinter Gittern. Es gab kaum ein Fach, das mich interessierte. Ich hörte mit einem Ohr halbherzig dem Lehrer zu, während ich mein Hausaufgabenheft mit Cartoons verzierte, oder mit meinen Sitznachbarn schmutzige Witze austauschte. Eine Eins zählte in meinem Zeugnis zu den ausgestorbenen Arten, dafür tummelten sich dort die ein oder andere Vier, und gelegentlich auch mal eine Fünf.
Immer wieder hatte ich aber die Gelegenheit, mal die Schule für ein paar Wochen zu verlassen und mit meiner Mutter, einer leidenschaftlichen Fotografin, auf Reisen zu gehen. Wir nutzen schon alle Ferien zum Wegfahren, doch es war uns nicht genug. Einmal unternahm meine Familie sogar eine sechsmonatige Reise. Währenddessen verbrachte ich keine Minute in einem Schulhaus, Schulbücher interessierten mich auch überhaupt nicht. Seltsamerweise lernten ich und meine Geschwister in dieser Zeit trotzdem enorm viel.
Auf einmal war alles für mich interessant; selbst der Schulstoff, der früher todlangweilig war.
Der Unterschied zu vorher war, dass ich nun keinen Zwang mehr hatte, etwas Bestimmtes bis zu einem vorgegebenen Datum zu lernen. Jetzt konnte ich machen, was ich wollte, im wahrsten Sinne des Wortes. Und auf Reisen hat man so viele Gelegenheiten, etwas Neues zu erfahren, so dass man selbst beim besten Willen nicht darum herum kommt, neues Wissen aufzunehmen.
Wir trafen Fischer, Kapitäne, Jäger, Meeresbiologen, andere Reisende und redeten sowieso mit fast jedem, der uns über den Weg lief. Wir waren aktiv neugierig und nach einem halben Jahr in Skandinavien und Großbritannien wusste ich enorm viel über diese Länder und die Leute, die dort leben. Außerdem hatte sich mein schmächtiges Schul-Englisch wie von selbst zu einem brauchbaren Verständigungsmittel weiterentwickelt. Ich hatte ohne bewusste Anstrengung etwas erreicht, woran ich in der Schule jahrelang gescheitert war.
Ich lebte, statt das Leben in der Schule zu simulieren.
June Browne brachte uns alles über ihre Shetland-Ponies bei.
Nach dieser monatelangen Reiseerfahrung wollten meine Geschwister und ich nicht mehr in die Schule zurück. Wir wollten reisen und gemeinsam die Welt kennen lernen!
Meine Eltern entschieden sich, ihr Hobby, die Fotografie, zu ihrem Beruf zu machen. So waren wir jetzt beruflich viel in Europa unterwegs, auf der Suche nach den richtigen Motiven oder nach Projekten, die wir machen könnten. Und wir waren von nun an „Homeschooler“, also Heim-Lerner, auch wenn wir unterwegs waren.
Was ist Homeschooling?
Man sollte hier vielleicht noch erwähnen: Homeschooling kann viele verschiedene Formen annehmen. Teileweise läuft es so ab, dass die Eltern die Rolle des Lehrers übernehmen, einen Stundenplan aufsetzen und Hausaufgaben aufgeben. Es gibt aber auch die Sorte Eltern, die auf den selbstständigen Lerndrang ihrer Kinder vertrauen und ihnen keinen Druck machen. So war es bei mir; meine Eltern haben mich kein einziges Mal angetrieben, etwas zu lernen. Ich habe es aus rein eigenem Interesse getan.
Viele Dinge hätte ich anders nie so intensiv lernen und erfahren können – in mancher Hinsicht ist eine lange Reise die beste Bildung, die ein Jugendlicher bekommen kann. Man lernt die Dinge nämlich nicht einfach, man entwickelt schnell eine Leidenschaft dafür. Und wenn man etwas leidenschaftlich tut, fällt es einem um ein Vielfaches leichter und macht Spaß, statt lästig zu sein. Vieles von dem, was ich später für Erdkunde brauchen würde, war für mich Allgemeinwissen. Wie funktioniert Globalisierung, und wie beeinflusst sie die Tier- und Pflanzenwelt einer bestimmten Region, wie hängen Umweltresourcen und Wirtschaft zusammen, und vor allem, wie eignet man sich solches Wissen schnell an?
Die Walforscherin Heike Vester brachte mir enorm viel über maritime Biologie bei.
Genauso lernte ich viel über Geschichte, wenn wir an einem historischen Ort waren und dort mit den Leuten redeten. Was mein Interesse einmal geweckt, las ich später nochmal intensiv nach, um mehr in Erfahrung zu bringen.
Außerdem lernte ich, wie man schreibt. Ich bin zwar bei weitem kein Kandidat für den Literaturnobelpreis, aber beim Schreiben für unseren Reiseblog eignete ich mir ein gewisses stilistisches Grundwissen an.
In der Normandie lernten wir schon früh Weltkriegsgeschichte vor Ort.
Und selbst die Fächer, die man durch Reisen nicht „wie durch Osmose“ lernt, hatte ich bis zu den Abiprüfungen durch selbständiges Lernen gemeistert.
Wie ich für das Abi lernte
Wenn man lernen muss, aber sich die Zeit dazu selbst einteilen kann, wird es eventuell ewig dauern, bis man sich endlich dazu aufrafft – es gibt ja viel interessantere Dinge!
Irgendwann merkt man aber, dass man jetzt in die Puschen kommen muss, wenn man doch wissen will, was ein Integral ist oder was es mit Vektoren auf sich hat. Ich hätte es vorher nicht für möglich gehalten, aber auf einmal war ich neugierig auf Mathe, ich wollte es unbedingt lernen. Und wenn man auch noch den ganzen Tag Zeit dazu hat, dann geht es natürlich gleich viel leichter von der Hand, als in der Schule. Dort muss man lernen, hat aber dafür nur vier Schulstunden pro Woche zur Verfügung.
Mit den konkreten Vorbereitungen auf die Abiturprüfungen fing ich etwa ein Jahr vor dem geplanten Abschlusstermin an, doch wir waren zwischendurch in Norwegen und Schweden, so lernte ich effektiv nur acht oder neun Monate.
Am besten mit der größten Baustelle anfangen
Ich fing mit Mathe an. Ich war in Mathe immer schlecht gewesen, doch jetzt war es eines meiner Hauptfächer – die kann man sich beim externen Abitur nicht aussuchen. Kernfächer sind Deutsch, Mathe, Englisch und Geschichte.
Viele Wochen lang war es das einzige Fach, mit dem ich mich beschäftigte. Ich hatte die Khan-Academy entdeckt, eine ausführliche Sammlung an englischsprachigen Lehrvideos im Internet, die ich einfach so lange immer wieder anschaute, bis ich wusste, was Salman Khan mir erzählen wollte. Zwar waren sie für das amerikanische Schulsystem ausgelegt, und ich musste das ein oder andere Thema anderswo besorgen, oder ich lernte Dinge, die für mich irrelevant waren – aber ohne die Khan-Academy wäre es mir echt schwergefallen. Ein Buch darüber, Die Khan-Academy: Die Revolution für die Schule von morgen, gibt es auch in Deutsch.
Im August fuhren wir dann nach Norwegen, die Reise dauerte drei Monate. Ich hatte mir vorgenommen, dennoch zu lernen, das würde ich schon schaffen. Eine utopische Fantasie, wie ich schnell einsah, denn auf Reisen gibt es weitaus Interessanteres zu tun, als die Nase in Bücher zu stecken. Dann eben nach der Reise!
Mit Volldampf voraus!
Im November legte ich dann mit Volldampf los. Die schriftlichen Prüfungen waren nur noch fünf Monate entfernt, und bis auf Mathe hatte ich noch nichts gemacht (und selbst da fehlte noch einiges). Also ran an die Arbeit! Ich setzte mir ein Ziel: Jeden Tag fünf Stunden pauken, ein Tag in der Woche ist frei.
Mit dem Druck der sich bedrohlich nähernden Prüfungen fiel es mir dann auch leichter als gedacht, dieses Schema auch einzuhalten. Die Tatsache, dass ich mir den Lehrplan selbst zuschneiden konnte und er sich daher stark nach meinen individuellen Lerngewohnheiten und Wissenslücken richtete, erleichterte mir das Lernen enorm. Ich konnte mich auf genau das konzentrieren, wo es fehlte. In Mathe wollte ich eine Eins, also lernte ich sehr intensiv. In Geschichte hatte ich noch große Lücken, da ich immerhin auch am Stoff interessiert war, war es leichter als ich befürchtet hatte.
Englisch priorisierte ich gar nicht. Das war mein Ass im Ärmel, denn durch das viele Reisen und die vielen englischsprachigen Freunde, hatte ich die Sprache fließend drauf. Zudem las ich viel und schaute Filme und Serien nur in Englisch an, hier musste ich mir also keine Sorgen machen. Ich zog mir noch die Pflichtlektüre rein, das wars.
Fünf Monate stopfte ich so systematisch eine Wissenslücke nach der anderen. In der Schule wäre viel Zeit allein daran verloren gegangen, Unterricht über Sachen abzusitzen, die ich bereits beherrschte. Dafür hätte sie anderswo gefehlt – ich verbrachte zum Beispiel weit mehr Zeit mit Mathe als meine Mit-Abiturienten in der Schule.
In den letzten Monaten stand ich dann auch im Kontakt mit den Lehrern, die mir die Prüfungen abnehmen würden. Sie waren sehr hilfsbereit und unterstützen mich mit Probeklausuren und zusätzlichem Lernstoff. Außerdem boten sie mir an, in der Woche vor dem Abitur in die Schule zu kommen, um die Mitschüler und das Kollegium kennen zu lernen. Das nahm ich natürlich gerne an.
Die ersten acht (!) Prüfungen
Als sich die anfangs gefürchteten Prüfungstermine näherten, fand ich es gar nicht mehr so fürchterlich, denn ich fühlte mich erstklassig vorbereitet. Im Gegensatz zu den anderen Abiturienten hatte ich fünf Monate lang intensive Prüfungsvorbereitungen gehabt. Sie hatten regulären Unterricht – der bereitet natürlich auch vor, aber man hat zwischendurch unzählige Klausuren, Epochalnoten und anderen Kram, der am Ende in der Prüfung nicht drankommen wird. Das ist weniger zielstrebig. Andererseits wurde ich aber über den gesamten dreijährigen Lehrstoff auf einem Schlag geprüft.
In den vier schriftlichen Prüfungen schnitt ich weit besser ab, als erträumt (die Ergebnisse bekam ich nebenbei erwähnt erst zwei Monate nach den Prüfungen). In Deutsch 12 Punkte, in Mathe 14, in Englisch auch 14, und 9 in Geschichte. Dann kamen in diesen Fächern noch mündliche Prüfungen hinterher – die verliefen auch gut, wenn auch nicht ganz so gut wie die schriftlichen. Anfangs war ich sehr nervös. Vor allem in der ersten Prüfung, Mathe, machte ich deswegen einige Fehler. Ich bekam „nur“ 11 Punkte. Deutsch und Geschichte liefen passabel – 9 und 8 Punkte – da hätte ich ein paar Stunden mehr investieren können.
In Englisch räumte ich ab. Wie gesagt, das war mein Ass im Ärmel. Die drei Prüfer waren sehr froh darüber, mir alle 15 Punkte geben zu können, denn ich war der erste, der diese spezielle Form der mündlichen Prüfung ablegte.
Noch bin ich nicht durch – es kommen noch vier Mündliche
Als ich diese erste große Hürde hinter mir hatte, kam es noch einmal dick hinterher: Ich hatte nur acht Wochen Zeit, um mich auf vier weitere mündliche Prüfungen vorzubereiten. Musik, Geografie, Latein und Physik. Da ich in den Monaten davor alle Hände voll mit dem ersten Prüfungsteil zu tun gehabt hatte, war in diesen Fächern noch fast gar nichts geschehen. Oh je.
Naja, nichts wie ran, es gab keine Zeit zu verlieren! Ich lernte weiterhin jeden Tag um die fünf Stunden. Ich musste die gesamte Musiktheorie der Oberstufe lernen, und in Physik hatte ich zuvor auch keinen Finger gerührt. Zum Glück würden die letzten vier Fächer auf dem Niveau zweistündiger Kurse geprüft werden, nicht vierstündiger.
Schließlich kamen die Prüfungen, doch diesmal hatte ich weit mehr Zweifel an meinen Fähigkeiten, als ich sie bei den ersten acht Prüfungen gehabt hatte.
Die Zweifel erwiesen sich als weitgehend überflüssig. Es waren immerhin mündliche Prüfungen, und die Tatsache, dass ich äußerst gerne und noch dazu viel rede (das habe ich mir wohl unterwegs angewöhnt…), kam mir in den mündlichen Prüfungen sehr zugute.
Vielleicht half mir auch der Umstand, dass ich insgesamt acht mündliche Prüfungen ablegen musste, und nicht nur eine oder zwei, wie das normalerweise der Fall ist. So hatte ich schon recht viel Übung im Bestehen von mündlichen Prüfungen. Ich wusste bei weitem nicht alles, wonach mich die Prüfer fragten, aber ich wusste, wie ich trotzdem etwas draus machen konnte.
In Physik zum Beispiel scheiterte ich erbärmlich an den Rechenaufgaben, die man mir in der Vorbereitungszeit hingelegt hatte. Ich hatte keine Rechenpraxis. Dafür konnte ich die Prüfer aber mit meinem Verständnis der Vorgänge überzeugen, denn ich hatte den Stoff wochenlang gelernt und wie ein Schwamm aufgesogen. Am Ende gab mir das Prüfungskommitee ganze 10 Punkte.
In Musik kam natürlich das Thema dran, welches mir gar nicht lag – Impressionismus. Ich erzählte alles, was ich davon wusste, und ließ nebenbei noch einiges von dem Wissen einfließen, welches ich von den anderen Musikperioden hatte. Das gab ganze 12 Punkte für „umfangreiches Fachwissen“. Mündliche Prüfungen waren doch nicht so schlimm, vor allem nicht auf Nebenfachniveau.
In Geografie, einem meiner Lieblingsfächer, hatte ich zu allem eine Antwort parat und räumte alle 15 Punkte ab.
Selbst in Latein, meinem alten Erzfeind, bekam ich zu meiner großen Überraschung acht Punkte. Allerdings mit etwas Glück, da es sich hier um eine Präsentationsprüfung handelte – das heißt, ich durfte die möglichen Abfragethemen selbst wählen. So konnte ich meine sehr bescheidenen Übersetzungskenntnisse mit geschichtlichem Hintergrundwissen verstärken, denn ich konnte ja gezielt lernen.
Es ist geschafft! Ich bekomme mein bisher bestes Zeugnis ausgehändigt
Unterm Strich hatte ich am Ende einen Notenschnitt von 1,8. Das war um Welten besser als jedes einzelne Zeugnis, das ich meinen früheren Schuljahren ausgehändigt bekommen hatte.
Ein paar Tage nach der letzten Prüfung ging es zum Abi-Ball. Es wurden aufwändige Reden geschwungen und ein Film gezeigt, den meine Mit-Abiturienten gedreht hatten. Hinterher wurden die Zeugnisse ausgehändigt. Jeder wurde namentlich auf die Bühne gerufen, um sein Zeugnis in Empfang zu nehmen. Nur bei einigen Wenigen sprach der Schulleiter noch ein kurzes Wort, zum Beispiel bei dem Kandidaten mit den besten Abi-Schnitt, oder wenn jemand einen angesehenen Preis gewonnen hatte. Als ich an der Reihe war, erzählte er der gesamten Versammlung die Umstände meines Abschlusses.
„Normalerweise freuen wir Lehrer uns, wenn unsere Schüler nach Jahren in unserer Obhut endlich das Abitur erlangen.“ sagte er. „Doch der Herr Reichert hier kam nur für die Abschlussprüfungen an unsere Schule, und hatte sich den ganzen Stoff auch noch selbst beigebracht. Wir kamen uns fast überflüssig vor!“
Er erzählte von meinem Berg an Prüfungen und betonte auch noch meine Endnote. Der ganze Saal applaudierte laut, und ich war stolz, wie ein Sportler auf dem Siegerpodium.
Bis zum Tag der letzten Prüfung war ich mir nicht sicher gewesen, ob ich auch alles gut hinbekommen würde. Was, wenn ich eine Prüfung verhauen würde? Was, wenn ich am Ende einen lausigen Schnitt hätte? Mit 1,8 hatte ich nämlich auf keinem Fall gerechnet.
Um so besser fühlte es sich an, das Abiturzeugnis mit einer Eins vor dem Komma in der Hand zu halten. Und als der Schulleiter es so vor dem ganzen Saal formulierte, wusste ich: Ich hatte wirklich etwas Bemerkenswertes erreicht, weil ich es mir fest vorgenommen hatte. Für mich war das Schulfremdenabitur genau die richtige Entscheidung gewesen!
Noch eine Anmerkung: Ich war in dieser Zeit bei der Clonlara School angemeldet, einer Fernschule, die maximale Freiheit beim Lernen erlaubt. Ich konnte also machen was auch immer ich wollte, es war meine Sache. Wenn ich aber organisatorische Unterstützung brauchte, standen mir Karen und Matthias Kern, meine Schulberater immer zur Seite. Sie halfen mir, das Anmeldungsschreiben aufzusetzten oder sagten mir, wo ich die Lehrpläne finden kann. Außerdem ließen sie mich bei ihnen in Markdorf am Bodensee wohnen, während ich die Prüfungen hatte. Ich machte das Abi in Baden-Württemberg, weil sie dort das Zentralabitur haben – da weiß man schon vorher, wie die Prüfungen ungefähr aussehen werden, und kann besser lernen. Mittlerweile sind Karen und Matthias nicht mehr bei Clonlara aktiv, sondern haben ihre eigene „Schule“ eröffnet, Kern-Bildung. Sie spezialisieren sich nun darauf, Leuten wie mir bei Fragen zum externen Abschluss zur Seite zu stehen. Sie unterrichten jedoch nicht, das muss man schon selbst tun. Doch für die wertvollen Tips und Tricks, mit denen sie mich unterstützt haben, bin ich sehr dankbar!
Meine Materialien
Ohne gute Lehrbücher kann man sich nicht wirklich auf eine Prüfung vorbereiten. Ich hatte zum Glück ein paar Tips von Karen und Matthias und von den Lehrern bekommen. Diese Bücher kann ich jedem empfehlen, der auch das Abitur in BW anbelegen möchte:
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Das Buch über Freilerner Erfahrungen – „Wir sind so frei“, Gabi Reichert, Karen Kern, Stefanie Mohsennia, Heike Weimer
PS Mittlerweile legten auch die beiden Geschwister Noah und Amy ihr Abitur als Nichtschüler in der Externenprüfung ab. Esra hat sein Bachelorstudium in Geographie im August 2019 mit Bestnote beendet. Noah studiert Kulturanthropologie und Philosophie. Amy hat in der Corona Krise ihr Studium der Filmwissenschaften und Amerikanistik begonnen. Das Studieren daheim fällt ihr nicht super schwer – aber schade, sie hätte sich jetzt so sehr auf den normalen UNI Betrieb mit Bibliotheken und das Kennenlernen von Kommilitonen gefreut.
Das Freilernen ist die ideale Vorbereitung für ein Studium an der Universität, weil selbstbestimmtes und selbstorganisiertes Lernen dort sehr wichtig ist.
https://www.5reicherts.com/wp-content/uploads/2015/01/MG_6172.jpg467700Esrahttps://www.5reicherts.com/wp-content/uploads/2021/03/Leuchtturm-o.pngEsra2015-01-14 19:33:322024-02-25 17:17:05Abitur ohne Schule
Wir berichten über unsere Erfahrungen über das freie Lernen lange vor Corona. Unsere Kinder gingen nicht in die Schule, sondern reisten mit uns durch Europa. Sie machten die externen Abschlüsse und studieren sehr erfolgreich.
Warum unsere Gedanken zum freien Lernen auch für Lehrer, Schüler und deren Eltern interessant sind, erährst du in den ausführlichen Blogbeiträgen.
https://www.5reicherts.com/wp-content/uploads/2013/08/MG_9086.jpg467700Gabihttps://www.5reicherts.com/wp-content/uploads/2021/03/Leuchtturm-o.pngGabi2020-03-17 13:16:302024-01-23 09:37:04Lernen ohne Schule