Freilernen und soziale Kontakte – ein Widerspruch? – Vom Leben lernen
Dies ist ein Artikel aus dem Jahr 2015.
Eine der Fragen, die Freilerner und Homeschooler am häufigsten zu hören bekommen, ist die nach den sozialen Kontakten. Viele Menschen glauben, dass Jugendliche zusammen mit 30 Gleichaltrigen in einem Klassenzimmer sitzen müssen, ansonsten verkümmern sie sozial und werden zu Sonderlingen ohne Freunde.
Ich dachte, ich schreibe mal etwas zu diesem Thema, immerhin wird dieser Glaube von vielen vertreten.
Ich habe einen sehr bunten Freundeskreis, in dem sich viele andere Freilerner befinden, aber auch „normale“ Leute jeden Alters. Ich lerne neue Leute auf Reisen kennen, auf Feiern, in Vereinen, auf Konzerten oder im Internet (oft sind es andere Freilerner, die sich über das Lernen austauschen wollen). Ich brauche die Schule dafür nicht.
Weniger Zeit mit anderen, dafür aber bessere Zeit
Der große Unterschied zwischen meinem jetzigen sozialen Leben und meiner Schulzeit ist, dass ich mir nun selbst aussuchen darf, mit wem ich meine Zeit verbringe. Ich sitze nicht mehr zusammen mit 30 zufälligen Menschen die Zeit ab, von denen mir nur eine Handvoll sympathisch sind. Meine jetzigen Freunde haben viel mehr gemeinsam mit mir als nur das Klassenzimmer. Ich kann mich mit den Menschen austauschen, die ähnliche Interessen haben.
In meiner Schulzeit habe ich zwar mehr Zeit mit Gleichaltrigen verbracht als nun. Allerdings ist die Qualität der Zeit, die ich jetzt mit meinen Freunden verbringe, viel höher. Wir schlagen nicht zusammen die Zeit tot, wir unternehmen lieber etwas, machen Projekte oder unterhalten uns ungestört, statt dem Takt der Schule zu folgen. Übrigens geben andere Freilerner erstklassige Freunde ab, denn sie haben auch enorm viel Zeit zu ihrer Verfügung und sind daher eher für interessante Projekte zu haben. Man kann problemlos mehrere Tage oder gar Wochen oder Monate zusammen verbringen und diese Zeit nach belieben mit Aktivitäten füllen.
Dass Schule ein vortrefflicher Ort sei um neue Freunde zu finden und alte zu treffen kann sowieso nicht jeder Schüler bestätigen. Viele werden gemobbt oder fühlen sich der Klassengemeinschaft nicht zugehörig, aus welchem Grund auch immer. Wer ein wenig anders ist, wird schnell zum Außenseiter.
Warum wird eigentlich so ein Wert auf soziale Kontakte im gleichen Alter gelegt?
Ich bin zufrieden mit meinem Freundeskreis aus Leuten aller Altersgruppen. Im „echten Leben“ hat man immerhin auch nicht nur mit Menschen zu tun, die im gleichen Jahr geboren sind wie man selbst. In einem gemischten Umfeld kann man von den Älteren lernen und bekommt einen Sinn für Verantwortung, wenn man den Jüngeren hilft. Von Gleichaltrigen lernt man meist nichts – man lernt mit ihnen, aber das ist etwas anderes.
Alle Freilerner, die ich kenne (und es sind schon einige) sind aufgeschlossene, freundliche Leute mit einem gesunden Freundeskreis.
Es gibt natürlich auch solche Freilerner, die nicht sonderlich viel mit anderen Menschen am Hut haben und selbst ihr bester Freund sind. Das hat allerdings nichts mit Vereinsamung zu tun. Meist sind das genau die, die auch in der Schule immer einen kleinen Freundeskreis hatten und sich unter zu vielen Menschen unwohl fühlten. Manche Menschen sind mit weniger sozialer Interaktion zufrieden als andere.
Klar muss man auch mal schlechte Erfahrungen machen – aber jeden Tag?
Dann gibt es da noch eines meiner „Lieblingsargumente“: „Aber es ist nicht gut, wenn man sich seine Freunde immer selbst aussucht. Man muss auch lernen, mit Leuten umzugehen, die man nicht mag“
Ja, das zu lernen ist sicherlich wichtig. Aber muss ich wirklich Jahre lang jeden Schultag lernen, dass ich mir im Leben nicht aussuchen kann, mit wem ich meine Zeit verbringe? Das kann ich nämlich. Wer Jahrzehnte lang mit Leuten zusammenarbeitet, die er absolut nicht ausstehen kann, hat irgendwas falsch gemacht.
Im Alltag kann man sehr wohl auch unangenehme Erfahrungen mit meinen Mitmenschen machen und daraus lernen. Dazu muss ich nicht in die Schule gehen.
Ich will natürlich nicht sagen, dass man in der Schule zwangsläufig schlechte Erfahrungen machen muss. Natürlich nicht. Aber es gibt eben auch einige, die jeden Tag schlechte Erfahrungen machen müssen.
Wenn ich mir andere Freilerner anschaue, bestätigt sich immer wieder: Man muss nicht in die Schule gehen, um Freunde zu haben und sozial kompetent zu sein. Die Freundschaften werden eher besser, wenn sie nicht mehr davon diktiert werden, mit wem man wann im selben Klassenzimmr sitzt.
Auf dem Foto am Anfan des Beitrags sind ein paar meiner Freunde und ich zu sehen, allesamt Freilerner bis auf Andrew, der Schwarzhaarige in der Mitte.
Esra Reichert