Wie es dazu kam, dass wir unsere Kinder aus der Schule nahmen
Die meisten unserer Leser wissen, dass wir unsere Kinder vor zehn Jahren aus der Schule genommen haben. Wir haben viel über unsere gemeinsamen Reisen und über die externen Schulabschlüsse geschrieben. In diesem Artikel rede ich zum ersten Mal über unsere Beweggründe: Wie kam es dazu? Hat sich dieser außergewöhnliche Weg für uns bewährt?
Aus unserer langen Erfahrung mit dem Lernen haben wir den ein oder anderen Ratschlag für dich mit eingebaut, egal ob du Schüler, Lehrer, Elternteil oder einfach „nur“ Fotograf bist.
1. Lernerfahrungen der Eltern
Ich selbst war in der Schule nicht glücklich, ich konnte dort nicht gut lernen. In den ersten Jahren war die Schule für mich ein unbedeutender Nebenschauplatz. Daheim gab es fast täglich Ärger, weil mein Vater abends immer betrunken nachhause kam, regelmäßig die Wohnung demolierte und wiederholt auch meine Mutter verprügelte. Wer denkt da schon an die Deutschhausaufgaben?
Ich war tagsüber müde und unkonzentriert, es hagelte schlechte Noten. Als ich zehn Jahre alt war, versuchten wir endlich, aus diesem nicht enden wollenden Elend zu fliehen. Wir schafften es, uns von ihm zu lösen – eine schwierige Geschichte, die ich hier nicht ausführen möchten. Jedenfalls waren wir danach jahrelang auf der Suche nach bezahlbaren Wohnungen. Wir zogen immer wieder in andere Ortschaften, möglichst weit weg von meinem Vater. Allein in der vierten Klasse wechselte ich wegen Umzügen dreimal die Schule. Tja, da blieb nicht viel Schulisches in meinem Kopf hängen. Die schlechten Noten demotivierten mich noch weiter. Keiner glaubte mehr an mich. Jeder dachte, ich wäre dumm und faul. Das war ich aber nicht!
Später beruhigte sich die Situation daheim, und wollte ich endlich richtig lernen. Wegen meiner schlechten Noten war ich auf der Hauptschule gelandet. Dort waren die Schulklassen extrem laut und unruhig. Das lag vor allem an den Lehrern, die sich nicht durchsetzen konnten.
Meine Lieblingsfächer waren die Naturwissenschaften. Jede Woche wartete ich sehnsüchtig auf den spannenden Biologie-, Chemie- und Physikunterricht. Diese kurze Stunde war mein einziger Lichtblick in der sonst nervigen Woche. Viele meiner Klassenkameraden sahen das nicht so. Die interessierten sich nicht für Physik oder Chemie, sondern unterhielten sich lieber lautstark und störten den Unterricht. Dem Lehrer fiel nichts Besseres ein, als die ruhigen Schüler nach hinten und die lauten nach vorne zu setzen. So landete ich in der letzten Reihe und bekam vom Unterrichtsstoff gar nichts mehr mit. Entsprechend gefrustet und sauer auf den Lehrer und die Klassenkameraden trottete ich Tag für Tag nach Hause.
Bis zur 9. Klasse hatte ich mich gefangen und ich kam besser mit der Schulsituation zurecht, konnte sogar zum Teil zeigen, was in mir steckt. Mein Zeugnis war so gut, dass ich zum freiwilligen 10. Schuljahr mit Realschulabschluss zugelassen wurde. Die Lehrer sagten mir trotzdem immer wieder: „Gabi, mach NIE etwas mit Sprachen. Deine Talente liegen in den Naturwissenschaften.“
Im Anschluss an die Schule absolvierte ich mit Begeisterung eine Ausbildung zur Biologielaborantin. Das hat richtig viel Spaß gemacht in der kleinen Gruppe interessierter Auszubildender und mit fähigen Lehrern. Jeden Tag war ich gespannt auf den Unterricht in Fächern, wie Anatomie, Mikrobiologie, Pflanzenschutz, Physiologie, Pharmakologie, Physik oder Mathematik. Hach, Naturwissenschaften jeden Tag!
Nach dem erfolgreichen Abschluss arbeitete ich ein paar Jahre in der Forschung der medizinischen Pflanzenzucht.
Der Beruf gefiel mir gut. Es war spannend, zu forschen. Aber ich wollte nicht die nächsten 40 Jahre im Labor arbeiten. Dort gab es zu viel Routine und zu wenig Entfaltungs- und Karrieremöglichkeiten. Ich war zu kreativ für eine Laborantin!
Also erfüllte ich mir den großen Wunsch, endlich mal ernsthaft zu lernen. Mit 25 Jahren kündigte ich meinen Job und ging in Mainz auf das Ketteler Kolleg, um mein Abi nachzuholen. Hier konnte ich erleben, wie angenehm das gemeinsame, selbstbestimmte Lernen auch in der Schule sein kann. Ich lernte gern und viel, schrieb zum ersten Mal in meinem Leben sogar in Deutsch und Englisch Einsen und war am Ende so gut, dass ich sogar ein Stipendium bekommen hätte, wäre ich nicht zu alt gewesen.
Die Erfahrung, dass das Abitur jederzeit auf dem zweiten Bildungsweg möglich ist, kam später unseren Kindern zugute.
Gunter quälte ein andere Art von Schulerfahrungen. Er war ein äußerst ruhiger, aber guter Schüler. Weil er früh eingeschult wurde, war er immer ein bisschen der Außenseiter. Bis auf die letzten paar Schuljahre fand er Unterricht total langweilig.
Seine prägende Erfahrung mit dem freien Lernen fing damit an, dass sein Klassenlehrer ihm über die Sommerferien ein Buch über Trigonometrie im Selbststudium ans Herz legte. Gunter war völlig fasziniert von der Möglichkeit, sich so lange wie möglich mit diesem Stoff zu befassen und im eigenen Lerntempo voranzukommen. Diese Sommerferien standen ganz im Zeichen von Mathematik. Alles was mit Trigonometrie zu tun hat, kann er heute, über 40 Jahre später, noch abrufen. Gunter schloss ebenso wie ich, die Hauptschule mit dem freiwilligen 10. Jahr ab und begann die Ausbildung zum Biologielaboranten. Du kannst dir bestimmt denken, wie wir uns kennengelernt haben? Gunter blieb im Job, fing aber an, nach der Arbeit für das Abitur zu lernen. Aufgrund fehlender Perspektiven für Biologen brach er irgendwann trotz guter Leistungen ab. Auch, weil ihm die Forschungsarbeit Freude bereitete und er an interessanten Projekten arbeitete.
Wir hinterfragten das deutsche Schulsystem zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Als unsere Kinder in die Schule kamen, gingen wir unvoreingenommen dran. Wir hätten aber die Signale, dass hier etwas nicht gut lief, dass sich unsere Kinder, genauso wie wir auch Jahre zuvor, sich mit dem Schulunterricht herumquälten, früher erkennen können und darauf reagieren müssen.
Wir hätten erkennen können, dass es für jeden, ganz eigene ideale Möglichkeiten, zum Lernen gibt.
3. Lernlustverlust in der Schule
Als Erstes kam Esra in den Kindergarten, das klappte auch ganz gut. Für den zwei Jahre jüngeren Noah war das schon schwieriger. Er wollte absolut nicht dorthin, es war toootal langweilig, und er versuchte uns jeden Tag davon zu überzeugen, dass er daheim besser spielen kann. Da ich von zuhause aus arbeitete und, seine kleine Schwester Amy noch zu kein für den Kindergarten war, war das auch kein Problem, und ich hatte wenig Gegenargumente. Im letzten Kindergartenjahr haben wir ihn dann gegen den Rat der Erzieherinnen abgemeldet. Er blieb von da an glücklich daheim.
Unsere Kinder haben sich alle auf die Schule gefreut. Irgendwie war die Zeit reif dafür. Sie waren alle drei extrem lernwillig und wollten endlich los legen.
In Esras Schultüte steckte die DVD-Filmbox von Pippi Langstrumpf. Mir war damals nicht bewusst, dass Pippi die berühmteste Freilernerin der Welt ist. Ein interessanter Aspekt, wenn ich so rückwirkend über unseren Lernweg nachdenke.
Jedenfalls verdünnisierte sich diese gewaltige Lernlust extrem schnell. Wir merkten es ganz besonders um das Ferienende herum. Lustige, wuselige, wissbegierige Kids verwandelten sich nach nur ein paar Wochen Schule in streitsüchtige, gereizte, uninteressierte und lustlose Kids. Die Grundschullehrerin offenbarte im Elterngespräch ihre Interpretation der Lage „Ist doch klar, dass die sich in der Schule langweilen. Könnt ihr nicht in den Ferien weniger interessante Sachen machen, als in Nord-Norwegen zu wandern oder auf Wal-Touren zu gehen?“
Auf unsere aufregenden Ferienzeiten verzichten, damit die Schule weniger langweilig wirkt? Was für eine Schnapsidee, und funktioniert hätte das eh nicht. Wir entschieden uns irgendwann für den gegenteiligen Weg. Wir verzichteten auf die fantasielose Schule und verbrachten mehr Zeit auf spannenden Reisen.
4. Lernen ist ein natürliches Bedürfnis
„Wie einfach kann Lesenlernen sein, und wie schwierig kann man es machen“
Amy fragte eine Weile vor ihrer Einschulung, ob der Bürgermeister das Lesenlernen verboten habe. Zu dieser Zeit hörten wir viel Bibi Blocksberg-Audiobücher, in denen der Bürgermeister eine wichtige Autoritätsperson ist. Wir verneinten und Amy löcherte danach uns und ihre Brüder mit tausend Fragen nach den Buchstaben und Wörtern. Innerhalb kürzester Zeit hatte sie sich so das Lesen beigebracht. Sie verschlang ganze Bücher. In der Schule ging es mit dem Lesen abrupt wieder rückwärts. „Die Lehrerin hat gesagt, das können wir noch nicht lesen, wir hatten das K und das W noch nicht.“
Solche Sprüche brachten uns zum Zweifeln. Lag das Problem darin, alle Kinder auf den gleichen Wissensstand zu bringen? Die Lernschwachen zu beschleunigen und die Schnellen auszubremsen? Für die einen bedeutet das Stress, für die anderen Langeweile. Das erschien uns kein besonders erfolgreiches Schulkonzept zu sein.
Unsere eigenen Erfahrungen mit dem Lernen hatten uns in aufmerksame Eltern verwandelt. Und wir hatten schwedische Freunde, deren Kinder Freilerner waren und schon sieht man als Familie ganz andere Möglichkeiten der Lebensgestaltung. Es gibt eben nicht nur die strikte Fünf-Tage-Woche, in Schulen, wo eine Stunden nur 45 Minuten lang ist, aber sich wie 80 Minuten anfühlen.
Im Rückblick reagierten wir bei Noah viel zu spät. Noah besuchte bereits die siebte Klasse und war extrem verzweifelt, fast schon depressiv. Der Unterricht an der Gesamtschule war für ihn nur laut und langweilig. Wir hielten eine große Familienkonferenz ab und nahmen schließlich die Kinder mit deren Einverständnis, auf deren Flehen, aus der Schule.
Unsere Hörbuchliste für Kinder und deren Eltern
5. Herausforderung deutsche Schulpflicht
Aufgrund der unflexiblen deutschen Schulpflicht waren wir gezwungen, unser Land zu verlassen. Wie sich das für eine reisefreudige Familie anfühlt, erzähle ich ausführlich in einem anderen Blogbeitrag. Nur kurz vorweg: „Reisen können“ macht Spaß, „reisen müssen“ ist deprimierend und fühlt sich wie eine Flucht an.
Wir wünschen uns von ganzem Herzen, dass die strikte deutsche Schulpflicht endlich aufgehoben wird. Gerade jetzt in Zeiten von Corona würde es viel mehr Sinn machen. Meine Ideen zum Thema Schule in Zeiten von Corona sind ganz simpel und ohne finanzielle Mitten umsetzbar. Diese will ich in Kürze ausführlich darlegen.
6. Wahres Lernen sieht man nicht
Unsere drei Kids waren also einige Jahre mit und einige Jahre ohne Schule. Esra genoss die kürzeste Freilernerzeit, Amy hat die längste schulfreie Zeit erleben dürfen. Anfangs versuchten wir, die Kids in der Freilernerzeit zu „schulischem Lernen“ anzuregen. Das führte zu überhaupt nichts. Wir merkten sehr schnell, dass „sinnbefreites“ Lernen nur Widerstand und Frust zur Folge hat. Von den lieblos hingeschmierten Matheübungen und dem Lesen langweiliger Texte bleibt nichts im Gedächtnis hängen. Kannst du dich noch an die Themen der Sozialkunde Arbeit der 8. Klasse erinnern? Da kann man es auch gleich lassen und die Zeit kreativer oder ausgelassener nutzen.
Das wahre Lernen sieht man von außen nicht. Man kann es aber hören! Begeisterung schwirrt durch die Luft, Ausrufe des Staunens sind zu hören, aufgeregtes Fragen und sehr viel Lachen und gute Laune.
Nichteinmischen wurde unsere Devise.
7. Die Schulentwöhnung lief in einigen Phasen ab.
- Zuerst kam die Befreiung vom Zeitdruck mit Abhängen, Spielen und Nichtstun.
- Dann das Wiedererwachen der Neugier und Wissbegierde. In dieser Phase lernten die Kinder, auf was sie gerade Lust hatten. Und das ist beileibe nicht wenig gewesen.
- Der dritten Phase ging die selbstbestimmte Entscheidung für einen Schulabschluss voran. Jetzt lernten die Kinder in eigener Regie den Schulstoff, der ihnen für das Erreichen des Abschlusses noch fehlte.
Unsere Drei meldeten sich selbstständig zu den externen Prüfungen an und erlangten alle ihre Schulabschlüsse. Den Schulkram kann man effektiv lernen, wenn man den Abschluss als Ziel vor Augen hat. Dazu gibt es ein paar ausführliche Blogbeiträge von Amy und Esra. Freilerner lernen also nicht nur, was sie wollen. Nein, wenn sie sich selbstbestimmt für etwas entscheiden – und das ist der wichtige Aspekt – dann lernen sie auch für Fächer, die sie eher nicht interessieren. Aber völlig ohne äußeren Zwang. Wir haben unsere Kids nach einer Weile NIE wieder zum Lernen aufgefordert oder sie ermuntert. Hört sich an, als seien wir Rabeneltern – wir waren eher das Gegenteil.
8. Auch Freilerner können Abitur machen
Amy und Noah machten den Realschulabschluss quasi als Vorübung für das Abitur. Alle drei haben inzwischen die Abiturprüfung erfolgreich bestanden. Jetzt studieren sie an der Mainzer Johannes-Gutenberg-Universität. Sie fallen auf im Unibetrieb. Entweder durch triviales Wissen, welches sie in den Freilernerzeiten angesammelt haben, oder durch eine gewisse Routine in der eigenständigen, effektiven Planung der Hausarbeiten.
Noah verbringt diesen Winter in Slowenien in seinem Auslandssemester. Wie das in Coronazeiten abläuft, ist ziemlich unvorhersehbar und irgendwie spannend. Zwei Wochen lang konnte Noah in richtigen Klassenräumen mit seinen Kommilitonen lernen, dann war Schluss damit, jetzt läuft alles digital. Da hätte er auch daheim bleiben können. Andererseits lernt er trotzdem neue Leute kennen und genießt den Aufenthalt im fremden Land.
Der Bericht zum externen Abitur von Amy
Der Bericht zum externen Abitur von Esra
9. Wer nicht lernt, lebt nicht
Wir als Eltern wissen jetzt, wie viel Freude das freie Lernen macht und wie effektiv es ist. Lernen ist ein normaler Zustand für Kinder, ausgelöst durch die natürliche Neugierde und Wissbegierde. Ich gehe einmal soweit zu behaupten, dass Lernen der natürliche Zustand aller Menschen ist. Bis ins hohe Erwachsenenalter hinein, wenn er nicht durch festgefahrene Routinen und Angst vor dem Neuen zerstört wird. Oder Angst vor Fehlern, wie sie in vielen Schule kultiviert wird.
Es ist erstaunlich, wie leicht alles ist, wenn die Kinder die Verantwortung für ihr Lernen übernehmen dürfen. Verantwortung klingt vielleicht für kleine Kinder zu „groß.“ Aber selbst im sehr jungen Alter wissen Kinder, wann etwas am besten für sie passt. Wie zum Beispiel Amy, als sie bereit war, Lesen zu lernen. Oder Noah, der ziemlich schnell wusste, dass er wesentlich besser lernen kann, wenn er Ruhe hat. Und er durfte das als Teenager ausführlich ausleben.
10. Die Lernumgebung – Eltern die an den Lernwillen ihrer Kinder glauben
Natürlich spielten wir als Eltern trotzdem eine tragende Rolle. Wir schafften für die Kinder eine angenehme inspirierende Lernumgebung.
Wir Eltern sind richtige Leseratten und Bücher sind in unserem Haus in jedem Raum zu finden. Wir lesen auch viel auf Englisch. Wenn Erwachsene vor der Klotze sitzen und ihren Kindern vorschlagen, sie sollen doch mal Bücher lesen, dann wird das nichts. Wenn Eltern viel lesen und ihren Kindern sagen, sie sollen doch mal mehr Bücher lesen, dann wird das auch nichts. Die Kids müssen sich schon selbst dafür entscheiden, aber es ist hilfreich, wenn spannende Bücher im Haus sind und die Flimmerkiste nicht den ganzen Tag ablenkt.
Als unsere Kinder noch klein waren, zelebrierten wir das abendliche Vorlesen. Die Jungs mochten am liebsten die klassischen Märchen und konnten sich nicht satthören. Einmal wurde Gunter beim Vorlesen durch das Telefon gestört. Der dreijährige Esra nahm sofort das dicke Buch in seine kleinen Hände und tat so, als lese er vor: „…wie der Wolf sein Gelüsten gestillt hatte, legte er sich wieder ins Bett …“ Das hat uns voll aus den Socken gehauen. Er kannte Rotkäppchen Wort für Wort auswendig.
Natürlich beantworteten wir auch geduldig die Fragen der Kinder. Es ist ganz wichtig, auf die Fragen zu warten. Das sind die Dinge, die die Kinder interessieren, und die sie sich merken. Pädagogisch sinnvollen Kram zu erzählen, wenn es niemanden interessiert, bringt nichts und fördert eher Lernblockaden und Desinteresse.
11. Freies Lernen bedeutet nicht automatisch antiautoritär
Als die Kids noch jünger waren, gab es auch ein paar Regeln im Hause Reichert. Abgesehen von den elementaren Benimmregeln, erlaubten wir Computerspiele erst nach 18:00 Uhr abends. Wir kontrollierten nicht und vertrauten darauf, dass diese Regel eingehalten wurde. Das klappte ganz wunderbar. Naja, wir wissen es ja nicht zu 100 %, aber Geheimnisse müssen auch sein.
Filme schauen fiel auch in diese Kategorie. Wir Erwachsene schauten englische und amerikanische Filme immer mit Originalton, synchronisierter Ton klingt einfach unecht. Schauten wir zusammen mit den Kindern Filme, schalteten wir immer öfter auf Originalton. Das machte den Kids bald nichts mehr aus, und trieb den Spracherwerb enorm voran.
Wenn die drei allein DVDs schauten, tricksten sie uns manchmal aus. Sie stellten einfach den DVD Player auf doppelte Geschwindigkeit und konnten sich so in zwei Stunden gleich zwei ganze Filme anschauen.
12. Homeschooling ist nicht Freilernen
Was ich damit ausdrücken möchte: Wir machten daheim oder auf Reisen kein „Homeschooling“ Programm. Kein Schulkram, aber jede Menge interessante, anregende Sachen. Nicht andauernd mit den Eltern zusammen, sondern auch nur die Kids allein oder mit ihren Freunden. Mit der kindlichen Phantasie können wir Erwachsene eh nicht mithalten. Letztens, viele Jahre nach den Kinder-Spielzeiten zuhause, sprach mich Noahs bester Freund aus Kindertagen an. „Weißt du eigentlich, warum ich so gerne zu euch zum Spielen gekommen bin? Weil du dich nie in unsere Spiele eingemischt hast. Du hast uns einfach in Ruhe spielen lassen und nicht andauernd irgendwelche langweiligen Bastelsachen vorgeschlagen. Meine eigene Mutter wollte uns permanent sinnvoll und pädagogisch wertvoll beschäftigen. Das hat sowas von genervt!“
Wie einfach es doch sein kann. Während die Kids glücklich spielten und viel dabei lernten, ohne es zu merken, konnte ich in Ruhe meine Fotos entwickeln oder Reportagen schreiben.
13. Freilernende Erwachsene
Zurück zu unserer Freilernerfahrung und unserem Fazit: Für uns Erwachsene bedeutet das, dass wir uns mehr zutrauen sollten. Wenn wir etwas wirklich wollen, dann können wir es auch lernen und tun.
Da möchte ich gerne ein paar Beispiele anbringen. Gunter lernte nicht in einer förmlichen Ausbildung, wie man Computer zusammenschraubt, einrichtet und wartet – nein, wir brauchen leistungsfähige Rechner, dann beschäftigen wir uns mit dem Thema und irgendwann hat man den Dreh raus. Wie sagt man so schön: „Learning by doing“ (Lernen durch Handeln). Und letztes Jahr stellte Amy sich ihren eigenen Computer zusammen, nachdem sie angefangen hatte sich dafür zu interessieren und montierte und setzte ihn mit Gunters dezenter Assistenz alleine auf. Als die beiden fachsimpelten, qualmten mir schon die Ohren.
Mir geht es mit der Fotografie genauso. Immer wieder komme ich an Themen, in die ich mich einarbeiten muss, und dann mache ich das einfach. Wie zum Beispiel eigene Bücher designen und druckfertig machen. Durch das Internet und erschwingliche Software haben wir viel mehr und ganz neue Möglichkeiten, als wir das früher mit Lehrbüchern und Kursangeboten an der VHS oder im Fernsehen oder sowas hatten.
Amy und Esra studieren wegen der Corona-Krise notgedrungen von daheim aus. Sie schauen sich Vorlesungen zu Themen an und schreiben Hausarbeiten drüber. Wenn ich mir das so ansehe, machen Gunter und ich den ganzen Tag ziemlich das Gleiche. Wir recherchieren, bilden uns zu bestimmten Themen, die gerade relevant sind, weiter und wenden das Gelernte direkt an. Wie cool eigentlich – wir studieren mit Mitte 50!
14. Sich etwas zutrauen
Der erste Schritt, etwas Neues zu lernen ist, es sich zuzutrauen. Das alles haben wir bei eigenen Lernenerfahrungen und bei denen unserer Kinder beobachtet.
Der zweite Schritt ist, sich nichts einreden zu lassen. Von Freunden unserer Kinder haben wir oft Sprüche, wie diese gehört: „Ich kann keinen Film im Original schauen, in Englisch hab ich eine VIER!“ Dann gruselt mich das. Kann er den Film nicht auf Englisch schauen, weil er dann nicht genug versteht, oder fühlt er sich durch die schlechte Schulnote einfach disqualifiziert? Es kostete einiges an Überzeugungsarbeit, und die Teilnahme an Online-Games mit englischer Sprache, dann wurde aus dem ehemaligen Viererkandidaten jemand, der ohne Scheu englisch spricht. Ein Ziel, das nicht allzu oft in der Schule erreicht wird.
15. Y-Kollektiv-Reportage über Freilerner und Schulverweigerer: Funktioniert Schule zuhause?
Im Sommer war David vom youtube-Kanal Y-Kollektiv bei uns. Er arbeitete an einer Reportage über das Freilernen und wollte sehen, wie es nach dem Lernen ohne Schule weitergeht. Wir waren da die idealen Ansprechpartner. Alle drei Kids haben ihr Abitur abgelegt, und zwar in 100%iger Eigenleistung und Eigenverantwortung.
Schau dir unbedingt die Reportage „Scheiss auf Schulpflicht“ vom Y-Kollektive auf Youtube an.
Die Reportage hat bereits mehr als 1 Million Zugriffe!
In dieser Reportage werden zwei Familien vorgestellt. Die erste Familie hat noch junge Kinder, die gerade mit dem Freilernen beginnen. Wir sind die zweite Familie mit inzwischen erwachsenen Kindern (hört sich komisch an, oder?) Die Gegenüberstellung der beiden Familien war gut angedacht, kommt aber nicht ganz so wie geplant bei den Zuschauern an. Es würde uns sehr interessieren, was du von der Reportage hälst? Schreib es uns in die Kommentare!
Ich selbst hatte mir gerade durch einen Unfall den Arm und den Fuß mehrfach gebrochen, war also gar nicht fit und nicht so konzentriert bei der Sache, wie ich es gern gewollt hätte. Ich konnte meine Argumente nicht so präzise auf den Punkt bringen. Esra, Noah und Gunter kamen auch zu Wort, jedoch hat David und das Y-Kollektiv-Team deren Interviews nicht in der Veröffentlichung genutzt. Sehr schade.
16. Sind wir privilegiert oder haben wir nur eine Entscheidung getroffen?
Im Video fragt David, ob nur privilegierte Familien das Freilernen in Deutschland leben können. Diese Frage blieb lange in meinen Gedanken hängen. Sind wir privilegiert, weil wir Reisen und deswegen Freilernen können? Nein, meiner Meinung nach sind wir das nicht. Gunter und ich taten uns extrem schwer mit der Entscheidung, seinen gut bezahlten Job zu kündigen und auf das „sichere“ Einkommen zu verzichten. Würden wir es schaffen, als fünfköpfige Familie von der Reisefotografie zu leben? Und dazu müssten wir noch sechs Monate im Jahr außer Landes sein. Mit drei Teenagern eine nicht zu unterschätzende finanzielle Belastung.
17. Es geht um Prioritäten!
Wir brachten dafür große „Opfer.“ Wir verdienten nur einen Bruchteil dessen, was wir vorher zur Verfügung hatten, nehmen eine wesentlich geringere Rente in Kauf, übernahmen die Verantwortung für die Bildung unserer Kinder und riskierten eine Verfolgung durch die Behörden wegen „Schulverweigerung.“
Das waren schon extrem anstrengende Zeiten für uns Eltern. Das Lernen und die Bildung unserer Kinder war dabei das allerkleinste Problem. Jahrelang machte uns das Kindergeldamt mächtig Ärger. Es forderte unrechtmäßig Geld zurück und zahlte das uns monatlich zustehende Kindergeld nicht aus. Bei jedem Gang zum Briefkasten stand mir der Angstschweiß auf der Stirn. Ämter fordern einfach ohne große Vorlauffristen große Geldsummen zurück. Bei drei Kindern und zwei Jahren kommt da eine für Geringverdiener existenzbedrohende Summe zusammen. Und das wusste das Amt genau, die hatten unsere Steuererklärung. Auf Rückfrage sagten sie am Telefon tatsächlich, dass uns nichts zusteht, weil wir ein zu geringes Einkommen hätten und kaum Steuern zahlten. Schriftlich wollte uns die Dame diese Aussage aber nicht geben.
Also: Wir sind nicht privilegiert, wir haben uns für unseren Lebensentwurf mit allen Hochs und Tiefs ganz bewusst entschieden und nahmen dafür einiges in Kauf. Wir bereuten es nie – ganz im Gegenteil!
18. Travelhacks von Reisefamilien – Buchvorstellung
1000 Travel Hacks für Familien – Best of 40 Reise- und Auswandererfamilien
Antje und Boris von https://nooba.co stellten ein ganz wunderbares, sehr umfassendes Buch für angehende oder bereits reisende Familie zusammen. Ich war beim Lesen begeistert, wie vielfältig die Tipps der 40 am Projekt beteiligten Familien sind. Wir haben unsere Tipps vor allem im Bezug auf Lernen ohne Schule und professionell fotografieren mit der Familie gelegt.
Das EBook gibt es über Digistore für 29 Euro zu kaufen.(Affiliate Link)
19. Unsere Lerngeschichte im Kontext
Ich hoffe, dass ich mit diesem Blogbeitrag unsere Lerngeschichte in einen sinnvollen Zusammenhang gebracht habe. Speziell für unsere kürzlich dazugestoßenen Leser. Viel Freude bei Lesen unserer anderen Freilerner Blogbeiträge.