Für das Geo Saison Magazin beantworteten Esra und Noah ein paar Fragen zum Lernen ohne Schule. Im Magazin wurde letztes Jahr ein Auszug des Interviews abgedruckt. Im Blog haben wir mehr Platz, daher gibt es das jetzt in voller Länge.
Abitur- /Realschulabschluss ohne Schule – könnt ihr das empfehlen?
Unsere Erfahrungen mit dem Lernen ohne Schule sind durchgehend positiv. Wir wagen es trotzdem nicht, es generell zu empfehlen, denn es hängt stark von der Person ab. Im Gespräch mit anderen Schülern kristallisierten sich zwei Grundtypen heraus: die einen legen Wert auf die Routine und Bequemlichkeit, die ihnen das durchorganisierte Schulsystem bietet. Die anderen lernen lieber eigenständig und passen ihre Lernmaterialen und die Themen an ihre individuellen Stärken und Schwächen an. Es wäre natürlich ideal, wenn jeder Schüler einmal ein paar Monate Auszeit von der Schule nehmen könnte, um das selbstbestimmte Lernen auszuprobieren, doch leider macht die derzeitige Rechtslage in Deutschland das nahezu unmöglich. Für uns ist es eindeutig die richtige Lernmethode gewesen. Wir möchten vor allem „schulmüde“ Jugendliche anregen, das freie Lernen wenigstens als Option in Betracht zu ziehen.
Wie ist das überhaupt möglich – lernen ohne Schule?
Die Schule ist nicht der einzige Ort, wo man lernen kann. Wir würden sogar soweit gehen zu sahen, dass es bessere Orte zum Lernen gibt. Kleine Kinder lernen selbständig zu sprechen, zu laufen und vieles mehr, nur indem sie sich in einem geeigneten Umfeld aufhalten, beobachten und nachmachen. Das selbstbestimmte Lernen hört ja nicht mit sechs Jahren auf. Selbst Lesen und Rechnen lernen Kinder von selbst, wenn der Zeitpunkt stimmt.
Eine großer Teil des Stoffes, der in der Schule gelehrt wird, begegnet uns ständig im Alltag. Wir werden damit im täglichen Leben konfrontiert und eignen ihn uns auch ohne Schulunterricht an.
Deutsch? Wir sind alle konstant von geschriebenem Wort umgeben. Ständig sehen wir Wörter und Texte, sei es auf der Müslipackung beim Frühstück, auf Schildern beim Spazierengehen oder Autofahren oder auf und in ersten Kinderbüchern. Jedes Kind fragt sich irgendwann, was sich hinter diesen Zeichen verbirgt und geht der Sache nach. Unsere Schwester lernte zum Beispiel Lesen, indem sie uns immer wieder fragte: „Was ist das für ein Buchstabe? Und das?“ Irgendwann hatte sie es auch ohne Schule drauf.
Englisch? Im Zeitalter des Internets und der globalen Vernetzung ist es beinahe unumgänglich, dass man mit der Sprache in Kontakt kommt. Wir hatten das natürlich auf unseren Reisen. Unsere Eltern sprachen mit Leuten aus anderen Ländern Englisch, und wir hörten erstmal nur zu. Dann fingen wir an, uns für englische Bücher zu interessieren, und irgendwann konnten wir einfach Englisch lesen, schreiben und sprechen.
Geschichte und Erdkunde? Praktisch überall relevant wo es Menschen gibt.
Wir selbst hatten ja anfangs auch unsere Zweifel was das Lernen ohne „Büffeln“ betraf, das heißt Lernen aus Schulbüchern mit Lösen von künstlichen Fragestellungen, und haben auch die ersten Wochen nach unserem Austritt aus der Schule einen großen Teil unserer Zeit mit Computerspielen und Filmen verplempert. Wir hatten auf einmal viel Zeit, und diese war noch dazu unbegrenzt, also nicht nach sechs Wochen Ferien wieder vorbei.
Wir staunten, wie schnell sich unsere Tage mit sinnvollen Tätigkeiten anfüllten. Auch, wenn Erwachsene, das vielleicht nicht so sahen. Wir bastelten und bemalten zum Beispiel Warhammer Miniatur-Figuren an und hörten nebenbei Hörbücher. Um besser zu werden tauschten wir uns in Internetforen, natürlich auf Englisch, mit anderen Warhammer-Fans aus. Wir lernten das Schreiben in Englisch, übten uns im Planen von Projekten, arbeiteten künstlerisch handwerklich, saugten nebenbei Literatur in uns auf und fühlten uns dabei wohl.
Den größten Teil des für die Abschlüsse verlangten Stoffes haben wir durch unser allgemeines Interesse und unsere Neugierde drauf gehabt. Dann gibt es natürlich noch die Themen, wie Mathematik und Physik, die man mit dem Lehrbuch pauken muss. Doch auch das ist nicht mehr so im Informationszeitalter. Im Internet gibt es hervorragende Lehrvideos mit deren Hilfe wir jeden „Schulstoff“ lernen können. Das Gute daran ist, dass wir das Video wieder und wieder anschauen können, bis wir das Thema verstanden haben. Versuch das mal beim Lehrer!
Haben Eure Eltern euch unterrichtet? Wenn ja – wie lief das ab?
Nein, haben sie nicht. Wir sind als Familie gemeinsam monatelang in der Natur unterwegs gewesen. Trotzdem hatten wir die Freiheit, unseren Tagesablauf selbst zu gestalten und viel Zeit unseren Interessen und Ambitionen nachzugehen. Auch in der Zeit, vor den Prüfungen, haben wir selbst entschieden, wann und wie wir das Lernen dafür angehen. Lehrer in diesem Sinn hatten wir keine.
Was habt Ihr anderen Schülern voraus? Was haben sie Euch voraus?
Wir sind wahrscheinlich selbstständiger und auch besser organisiert. Der gewöhnliche Klassenunterricht vermittelt zwar viel Fachwissen, aber manche Dinge kann man dort einfach nicht verlässlich lernen: Eigeninitiative, wie man sich auf eigene Faust etwas beibringt, oder die Fähigkeit sich selbst mit aufkommenden Problem auseinander zu setzen. All dies sind unserer Meinung nach Kompetenzen, welche im späteren Leben unschätzbar wertvoll sind.
In der Schule gab es Projektwochen, wo genau das vermittelt werden sollte. Doch kaum waren die Projektwochen rum, stand da wieder der Lehrer vor uns und sagte, was wir wann zu tun hatten.
Wir haben als Freilerner viel mehr Zeit, uns selbst zu finden. Wir konnten die unterschiedlichsten Sachen ausprobieren und die Themen finden, die uns interessierten und Spaß machten. Auf diese Weise lernten wir vieles fast schon nebenbei und brauchten relativ wenig Zeit für die Prüfungsvorbereitung. Für das Abi lernte ich insgesamt ein Dreivierteljahr, Noah setzte sich zwei Monate mit dem Lehrstoff für den Realschulabschluss auseinander.
Auf den ersten Blick scheint das Leben in der Schule bequemer zu sein. Der Lehrplan steht fest, die Schulbücher werden angegeben. Man schreibt ständig Tests und übt die Prüfungssituation dadurch. Man weiss einfach besser, wo man steht.
Als wir zu den Abitur/Realschulprüfungen erschienen, hatten wir schon seit Jahren keinen Test mehr geschrieben oder irgendwelche Prüfungen abgelegt. Es fiel uns schwer, einzuschätzen inwiefern wir den Anforderungen des Lehrplans beim Lernen gerecht geworden waren, ganz zu schweigen von der ungemeinen Nervosität, die durch diese Unsicherheit hervorgerufen wurde.
Reisen bildet, sagt man. Was habt ihr auf Euren Reisen gelernt, was für das Abi/den Realschulabschluss wichtig war?
Als erstes fällt uns da Englisch ein. Permanent waren wir von Englisch umgeben. Es fing mit kleinen Gesprächen an, mit Schildern über Läden und so weiter. Doch schon bald lasen wir auch unsere Bücher in Englisch, und redeten problemlos mit Leuten über jedes Thema. Somit waren wir schnell auf einem Sprachniveau, welches mit schulischen Mitteln, wie dem Lernen von Vokabeln und Grammatik, kaum zu erreichen ist. Eine Stunde intensives Gespräch mit Muttersprachlern am Strand bringt mehr Sprachübung als vier Wochen Schulunterricht. Dadurch mussten wir für unsere Englischprüfungen im Prinzip nichts lernen und bestanden mit Bestnoten.
Auch in Fächern wie Geografie, Biologie und Geschichte half uns unser umfangreiches Allgemeinwissen. Dieses hatten wir uns unterwegs mühelos angeeignet – im Gespräch mit Forschern und Seeleuten, durch den Besuch kulturell signifikanter Schauplätze oder einfach beim Erkunden der Landschaften.
Da wir mehr in der Natur als in Museen unterwegs gewesen waren, musste ich hauptsächlich Geschichte, Mathe und Physik für das Abi lernen.
Und umgekehrt: Was lehrt euch das Reisen, was die Schule nicht kann? (Ein Beispiel wäre toll.)
Wir lernten aus eigenem Antrieb und Neugier sehr viel über die Länder, die wir bereisten, und über die Leute, die dort leben. Jede Gegend der Welt hat so seine Eigenheiten, und diese kommen einem durch einen langen Aufenthalt dort näher, als sie es durch Lesen eines Schulbuches je könnten.
Unsere Eltern sind Naturfotografen, sie fotografieren hauptsächlich Küste und das Meer. Wir verbringen viel Zeit mit Wanderungen und nehmen dabei natürlich den Müll, der überall herumliegt wahr. In unserem Reiseblog schreiben wir gemeinsam über Umweltthemen. So suchen wir uns interessante Leute, die wir zum Thema Müll interviewen können. Wir helfen dabei, Müll aufzusammeln, schauen uns genau an, was an den Stränden liegt. Wir sehen, wo wirklich viel Dreck und Plastik angespült wird, wo es Intitativen gibt, um die Strände zu reinigen. In der Bretagne wies uns eine Frau, Muscheln zum Essen sammelte drauf hin, dass die schwarzen Flecken auf den Felsen noch Ölrückstände vom Tankerunglück vor 20 Jahren seien. Die hatten wir vorher nicht wahrgenommen.
Auf den Lofoten lernten wir von einer deutschen Biologin alles über die Lärmverschmutzung im Meer und welche Auswirkungen das auf die Wale hat. Wir hatten den Kopfhörer der mit dem Hydrophon verbunden war auf den Ohren und hörten, wie laut das Kreuzfahrschiff in der Ferne war. Wir hörten auch den ohrenbetäubenden Lärm der seismischen Messungen für die Ölindustrie und bemerkten, dass an diesen Tagen überhaupt keine Wale im riesigen Vestfjord waren.
Interessant war es auch, gemeinsam „Moby Dick“ als Audiobuch zu hören, dann auf Waltour zu gehen und Pottwale zu sehen. Abends auf dem Campingplatz trafen wir eine Norwegerin, die aus einer Walfängerfamilie stammte und unterhielt uns noch stundenlang mit ihr. Durch solche Erlebnisse wird Interesse angeregt, welches wir dann natürlich vervollständigten, indem wir im Internet und in der Wikipedia recherchierten.
Ihr seid beide früher in eine staatliche Schule gegangen. Wie anders ist das Lernen auf Reisen?
Das war ein Unterschied wie Tag und Nacht, vor allem bei den Fächern, die wir auf Reisen „so nebenbei“ lernten. Wir nahmen kein Schulbuch in die Hand, bis die Prüfungen kurz bevorstanden. Wir verfolgten frei unsere Interessen und eigneten uns eine bleibende Allgemeinbildung an – weil wir es wollten, weil es uns Spaß machte, und weil wir selbstbestimmt entscheiden konnten, was wir wann machten.
Ein ganz wichtiger Faktor ist die Zeit, die wir plötzlich hatten um viele Bücher zu lesen. Und zwar Bücher, die wir uns selbst aussuchten. Da die englischen Bücher billiger sind, griffen wir wann immer möglich auf die Originalversionen zurück. Das hat uns bestimmt im sprachlchen Bereich massiv geholfen. Wenn wir an unsere Schulzeiten zurückdenken, wir mühsam es ist, sich durch ein Buch zu quälen, für das man sich gerade nicht interessiert. Da war das Lesen eher zum Abgewöhnen. Nicht, dass ihr jetzt denkt, wir hätten gar keine Klassiker gelesen. Nein, Goethe fanden wir auch interessant, aber erst ziemlich spät.
Als wir dann schließlich wieder mit Lehrbüchern paukten, war es anders als in der Schule, denn wir konnten unsere Stundenpläne selbst schreiben und sie an unsere Stärken und Schwächen anpassen. Zum Beispiel hatte ich (Esra) in Mathe enorme Wissensslücken, Deutsch fiel mir allerdings leicht. Also verbrachte ich ungleich mehr Zeit mit Mathe als mit Deutsch, und hatte schließlich in beiden Fächern gute Noten. In der Schule hätten wir uns nicht aussuchen können, wie lange wir an einem bestimmten Fach arbeiten. Wir hätten uns in einem Fach gelangweilt und Zeit abgesessen, während wir in einem anderen zurückfallen wären. Um in diesem Fall am Ball zu bleiben, hätten wir zusätzlich große Teile unserer auch so schon knappen Freizeit opfern müssen. Ist Nachhilfe nicht auch eine sogar anerkannte Form von Homeschooling?
Ich habe festgestellt, dass es besser ist, Mathe „am Stück“ zu lernen, also teilweise fünf Stunden pro Tag, als alle zwei Tage in 45-minutigen Schulstunden. Allein diese kleine Freiheit der Zeiteinteilung macht das Lernen enorm effektiv.
Was vermisst Ihr aus dem alten Schulalltag?
Eigentlich gar nichts. Es gibt durchaus Aspekte des Schulalltags, Schulfreunde zum Beispiel, auf die wir nicht gerne verzichten wollten, aber die Sorge erwies sich als unbegründet. Wir treffen uns regelmäßig mit unseren Freunden, auch für längere Zeit. Andere Freilerner haben meist nichts dagegen, gleich mal ein paar Wochen oder Monate mit uns zusammen Dinge zu unternehmen und an Projekten zu arbeiten. Neue Freunde konnten wir auch in Vereinen und unterwegs im Ausland finden.
Was von Euren Erfahrungen mit dem Lernen unterwegs ließe sich in den normalen Schulalltag übertragen?
ESRA: Die Schüler sollten sich mehr ihren eigenen Interessen widmen dürfen. Nur was man aus Interesse lernt, wird dauerhaft im Gedächtnis bleiben. Klar, manch einer wird nie ein wirkliches Interesse für Mathe entwickeln, da muss man dann einfach durch. Aber so wie Schule momentan abläuft, hat man nur sehr wenig Zeit, die Dinge zu tun, die einen wirklich begeistern. Man lernt fast nur für Prüfungen und vergisst das Gelernte danach gleich wieder. Die Schule müsste einfach mehr Freiraum erlauben.
NOAH: Den Schülern würde ich raten: wenn du mit den angebotenen Schulmaterialien nicht zurecht kommst, suche dir alternatives Material, mit dem du besser arbeiten kannst. Zu oft habe ich im Unterricht und bei den Hausaufgaben frustriert vor irgendwelchen unlogischen Arbeitsblättern oder faden Listen gesessen, mich gelangweilt, und damit total das Interesse am eigentlichen Thema verloren. Dabei gibt es unzählige Wege, an Wissen zu kommen, und in vielen Fällen zahlt es sich aus, nach Quellen zu suchen, die sich mehr nach den eigenen individuellen Lernverhalten richten. Ob es nun Lehrvideos, nicht offizielle Lehrbücher oder Artikel aus dem Internet sind. Klar, es hört sich nach zusätzlicher Arbeit an, es lohnt sich aber auf jedem Fall, wenn man den für sich passenden Lernweg gefunden hat.
Den Lehrern würde ich raten: Gebt den Schülern mehr Freiraum und Eigenverantwortung für selbständiges Lernen. Lasst sie selbst mehr aktiv werden, und ermuntert sie, ihren eigenen Interessen nachzugehen und diese eventuell auch im Unterricht vorzustellen. Das wäre eine gute Alternative für Hausaufgaben. Und wenn ein Schüler mal nichts liefert, nicht bestrafen und Geduld haben. Lernzwang und Motivation schließen sich meiner Meinung nach gegenseitig aus.
Amy legte letztes Jahr auch erfolgreich ihren externen Realschulabschluss ab! Und kurze Zeit später auch das Abitur als Externe. Jetzt studieren alle drei.
Lernen ohne Schule bis zum Abitur
Gabi hat als Mitherausgeberin das Buch „Wir sind so Frei“ umgesetzt. Im Buch finden sich 29 Lebensgeschichten von freilernenden Familien. Die Buchvorstellung mit Gabis Vorwort findest du hier.
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