Abseits des Asphalts, jenseits der Baumgrenze – ungeplantes Radreisen in Norwegen.
„Worauf haben wir uns nur eingelassen?“ fragen sich meine Freundin und ich beim Anblick des Weges vor uns. Der Asphalt ist zu Ende. Auf grobem Schotter geht es bei 18% Steigung und etlichen Serpentinen den Hang rauf. Die Reaktionen der entgegenkommenden Radfahrer weiter unten im Tal hätten eine Vorwarnung sein können: Einer rief uns laut „Respect!“ zu, als er an uns vorbeifuhr, andere gaben uns Daumen hoch oder schauten beeindruckt. Sie dachten bestimmt, wir wissen, was auf uns zukommt. Da haben sie falsch gedacht. Alles, was wir über den Rallarvegen wissen, ist, dass er uns Richtung Osten bringt (da wollen wir hin) und dass er vor einer Ewigkeit neben einer Eisenbahnstrecke angelegt wurde, damit die Eisenbahnarbeiter zu den Gleisen gelangen konnten. Die Sache mit dem groben Schotter und dem sehr einseitigen Höhenprofil der Strecke lernen wir gerade dazu.
„Ist es okay, wenn ich hier schiebe?“ fragt Josi. Sie ist manchmal besorgt, dass Schieben ein Zeichen von Schwäche ist, und fährt in der Regel jede noch so steile Straße mit mir hoch. „Ich glaube, das können wir gar nicht fahren“ antworte ich, und steige auch vom meinem voll beladenen Reise-Rad ab. Wir mühen uns ab, die 30 kg schweren Räder über den losen Schotter diese Straße hoch zu hieven. Unsere Räder sind einfach nicht für solche Strecken gemacht, wir haben schmale Straßenreifen auf den Felgen.
Das Dilemma mit dem Proviant
Nach zwei Stunden Knochenarbeit haben wir das Schlimmste hinter uns, der Weg wird ebener und wir steigen wieder auf unsere Räder. Noch 60 Kilometer liegen vor uns, es wird bald dunkel, und wir haben nicht mehr viel zu Essen dabei – die Plackerei hat unseren Appetit in die Höhe getrieben und den Proviant dezimiert. Zumindest um einen Schlafplatz machen wir uns keine Sorgen, denn in Norwegen darf man wildcampen. Nur: Wenn der Rallarvegen weiterhin so schwer befahrbar ist, brauchen wir den gesamten nächsten Tag dafür. Wir haben nur noch ein paar Bananen, eine Packung Kekse, etwas Müsli und Schokolade dabei – ohne zusätzlichen Proviant wird es eng. Was machen wir jetzt? Zurückzufahren kommt nicht in Frage. Nachdem wir so viel Mühe investiert haben, um die bisherigen 1.000 Höhenmeter zu sammeln, fahren wir sie sicher nicht einfach wieder runter. Eine zweite Option wäre die Bahn. Zwar führt nach Myrdal, eine Siedlung mit zehn Häusern, keine Straße, aber es gibt einen Bahnhof. Wir könnten also den Rallarvegen einfach überspringen.
Wir fragen einen entgegenkommenden Radfahrer, wie denn der Weg beschaffen war, den er die letzten 60 Kilometer gefahren ist. „Ganz schlimm“, meint er, „Mit euren Reifen wird das nichts. Nehmt lieber den Zug.“ Ich will diesen Gedanken zögerlich zur Debatte stellen und ernte prompt einen empörten Blick von Josi. Wir warten also kurz ab, um die nächsten Entgegenkommenden zu fragen. Zwei Meinungen sind besser als eine. Es kommt ein Paar mittleren Alters um die Kurve. „Ach was, das geht schon. Ihr seid noch jung,“ lautet deren Meinung. „Der Weg ist sehr anstrengend, aber er lohnt sich!“ Wir entscheiden uns, der optimistischen Einschätzung mehr Vertrauen zu schenken. Es wird schon schief gehen!
Über das ungeplante Reisen
Wenn wir gewusst hätten, was uns hier erwartet, hätten wir uns diesen Weg nicht zugetraut. Jetzt merken wir, dass es doch geht – und sind sehr froh darüber, dass wir zufällig hier her geraten sind. So müssen wir unsere Komfortzone verlassen und werden dafür reich belohnt. Die ganze Reise gleicht einer Kette von spontanen Entscheidungen. Wir haben ein paar Orte im Kopf, die wir gerne besuchen wollen, doch der Weg dazwischen wird kurzfristig erkundet. Schließlich bietet uns das Reisen per Fahrrad die perfekten Voraussetzungen für diesen Reisestil, und das wollen wir ausnutzen. Mit dem Zelt auf dem Gepäckträger ist die Freiheit einer Radreise perfekt.
Als wir auf den Rallarvegen treffen, sind wir schon seit einer Woche in Norwegen unterwegs, und während dieser Woche kamen wir schon einige Male aus dem Staunen nicht mehr heraus. Doch die Landschaft hier oben stellt alles Vorherige in den Schatten. Wir befinden uns über der Baumgrenze, kantige Berghänge sind mit Restschnee aus dem Winter gespickt und kristallklare Bergseen säumen den Schotterweg. Bei der Kulisse macht es uns nichts aus, dass der Weg fordernd und hin und wieder auch frustrierend ist.
Da es bald dunkel wird, halten wir Ausschau nach einem netten Plätzchen für unser Zelt. Es nieselt und ist nicht gerade warm hier auf dem Hardangervidda Plateaufjell. Viele der Flächen neben der Straße sind sumpfig und feucht, es dauert eine Weile, bis wir das Zelt auf einem relativ guten Stück Boden ausrollen können. Da wir seit knapp einer Woche nicht mehr geduscht haben, steigen wir auch noch kurz in den See direkt vor unserem Zelt, aber lange halten wir das eiskalte Wasser nicht aus. Zum Glück sind die Daunenschlafsäcke schön warm.
Ein prachtvoller Tag auf dem Fjell
Am nächsten Morgen scheint zum ersten Mal die Sonne an einem gänzlich blauen Himmel. Die nächtliche Kälte liegt zwar noch im Tal, aber ein prächtiger Tag kündigt sich an. Zum Glück! Die Schotterpiste wäre ein Alptraum in Regenwetter, daher ist der erste trockene Tag ein Segen. Wir fahren bald nach Sonnenaufgang los, damit wir den Rest des Weges noch am selben Tag hinter uns bringen können. Für einen weiteren Tag reicht der Proviant nicht mehr. Etliche Radfahrer kommen uns an diesem Tag entgegen, beinahe alle auf den Leihrädern, die sie sich am anderen Ende des Weges gemietet haben, nachdem sie mit dem Zug auf das Plateau gefahren waren.
Wir schaffen die Strecke gut, müssen nur in Ausnahmefällen schieben. Irgendwann erreichen wir den Höchsten Punk des Weges, bei 1.343 Metern über Normalnull. Um dort hinzukommen, sind wir allerdings knapp 2.000 Höhenmeter hochgefahren, es geht ja nicht stetig rauf, sondern auch manchmal wieder runter. Wir sind mächtig stolz auf uns, posieren vor dem Schild, genießen die Aussicht. Hinter der nächsten Kurve lauert sogar noch eine Überraschung: hier oben steht mitten im Niemandsland, zwischen Bergseen und kargen, felsübersähten Berghängen, ein kleines Café. So doof ist das gar nicht, denn der stete Strom von Radfahrern sorgt für Kunden, die beinahe garantiert Hunger haben. Nur: Die Frau hinter der Theke kann keine Kartenzahlungen annehmen. Das ist in Norwegen ein Problem, denn Bargeld ist hier beinahe ausgestorben. Wenn es eine rote Liste für gesellschaftliche Praktiken gäbe, dann würde bei den besonders bedrohten Arten das norwegische Bargeld stehen. Wir haben bisher immer die Kreditkarte genutzt (und sollten auch bis zum Ende damit an jeder Pommesbude Erfolg haben). Bis auf einen 20€ Schein haben wir nichts, doch nachdem wir ein bisschen um den Wert desselben gefeilscht haben akzeptiert sie ihn für eine üppige Bestellung mit Heißgetränken, Waffeln, und Kuchen. Ein Traum an diesem Tag.
Über das Radeln auf der E7 und Rabauken am Steuer
Irgendwann gegen Abend entlässt uns der Rallarvegen bei 1.000 Meter über dem Meeresspiegel wieder auf eine wundervoll asphaltierte Fernstraße, die E7. Das gefällt uns viel besser, als diese Höhenmeter auf grobem Schotter runter zu fahren. Wir rollen also mit hohem Tempo in die nächste Siedlung und decken uns dort als erstes wieder mit Proviant ein. Nach einer Nacht auf einer kleinen abgelegenen Wiese geht es dann auf der E7 weiter in Richtung Oslo. Die Straße ist tatsächlich als Fahrradroute ausgewiesen, und die Auto- und Lastwagenfahrer sind sehr rücksichtsvoll und angenehm. Erst nach etwa 50 Kilometern ergibt sich ein Problem: Parallel zur E7 führt für wenige Kilometer eine Seitenstraße, auf die uns ein kleines Schild für Radfahrer verweist. Gleichzeitig deklariert ein gut sichtbares Verbotsschild, dass ab hier keine Radfahrer mehr auf der E7 sein dürfen. Als die kleine Seitenstraße kurz darauf wieder in die E7 mündet, sagt uns ein kleines Schild wieder, dass die E7 eine Fahrradroute ist. Leider haben das die anderen Verkehrsteilnehmer nicht mitbekommen. Sie haben noch das Verbotsschild vor wenigen Kilometern im Kopf und fahren jetzt, als hätten wir hier nichts zu suchen.
Das Problem mit der Routenführung wiederholt sich noch einmal, und je näher wir an Oslo kommen, desto unangenehmer wird die Straße. Der Preis für das größte Arschloch auf der Straße geht an den Fahrer eines Reisebusses. Die Straße verfügt nur über jeweils eine Spur pro Richtung, und gerade ist die Spur des Gegenverkehrs voll. Es wird noch etwa 20 bis 30 Sekunden dauern, bis wir wieder überholt werden können. Von hinten hören wir den Reisebus anrauschen, und wie immer können wir an den Geräuschen der Fahrzeuge abschätzen, ob die schnell oder langsam fahren und ob sie abbremsen. Der Bus ist eindeutig mit vollem Tempo unterwegs, und die Bremsen bleiben unberührt. Auf die andere Spur kann der Bus nicht ausweichen, der will uns also einfach so überholen. Oh fuck! Josi lenkt ihr Rad in den Straßengraben und ich halte meines so gut ich kann auf der weißen Begrenzungslinie, während der Bus mit einer Handbreit Abstand an mir vorbeischießt. Was für ein Drecksack! Ich rufe ihm wüste Beschimpfungen hinterher und wünsche ihm den Teufel an den Hals, aber natürlich hört er das nicht.
Eine neue Herausforderung
Um dem Verkehr aus dem Weg zu gehen, verlassen wir wenig später die E7 und fahren auf einer kleinen Seitenstraße nach Oslo weiter. Wir sind an diesem Tag schon über 80 Kilometer gefahren und sind nur minder begeistert von dem Schild, das uns gleich zu Beginn der neuen Straße informiert: 8% Steigung für die nächsten zwei Kilometer. Über 15 Kilometer geht es bergauf, wir sammeln etwa 800 Höhenmeter. Als wir oben ankommen, ist die Sonne schon untergangen. Wir finden bald einen Schlafplatz und gehen nicht zu spät schlafen, denn am nächsten Tag wollen wir die 130 Kilometer nach Oslo in einem Rutsch schaffen. Wir haben Servas-Gastgeber kontaktiert, dort wollen wir zwei Nächte bleiben.
Im nächste Reisebericht schreibe ich über Oslo und den Weg nach Stockholm!
Hallo! Es sieht so aus, als ob Sie wirklich wissen, wie man Spaß hat :)
Übrigens, sehr schöne Fotos
Hallo Esra,
es freut mich sehr, von Euch zu hören bzw. zu lesen.
Noch spannender wurde es, als ich begriff, dass es um den Rallarvegen geht. Denn den habe ich letztes Jahr in Angriff genommen, aber dazu im Vorfeld extra ein neues Tourenrad bestellt.
Wenn ich nun sehe, dass ihr den Weg in umgekehrter Richtung – also von Norden nach Südosten gefahren seid, und das mit den schmalen Reifen, dann auch von mir mein größter Respekt!
Liebe Grüße
Bernhard