Buchrezension: Joanne K. Rowling – „Ein plötzlicher Todesfall“
Gesellschaftskritik der Meisterklasse – ein Erwachsenenroman – eine Buchrezension von Esra Merlin Reichert
– J.K. Rowling
Wie es scheint, war Gemeinderatmitglied Barry Fairbrother der Kleber, der das winzige englische Dörfchen Pagford zusammengehalten hatte. Denn als der beliebte und charismatische Barry schon mit Anfang 40 plötzlich aus dem Leben scheidet, entbrennt hinter der Fassade eines idyllischen Provinzdörfschens ein Konflikt, der sich zwar Anfangs nur um seinen Sitz im Gemeinderat dreht, sich aber bald in einen regelrechten Krieg zwischen allem und jedem entwickelt. Unterklasse gegen Mittelklasse, Teenager gegen Eltern, Ehemänner gegen ihre Frauen… Die unzähligen Fronten haben sich bald tief in ihre Schützengräben eingebuddelt und verbarrikadiert, und fahren nun die schwersten Geschütze gegeneinander auf.
Eine der Schlüsselfiguren im Krieg um Pagford ist der informelle Bürgermeister des Dorfes, welches eigentlich nicht einmal groß genug ist, um einen richtigen Bürgermeister zu haben; Howard Mollison, der nicht nur dreimal soviel wiegt wie ein normaler Mensch, sondern auch noch stolz darauf ist. Er hat kein größeres Ziel in seinem Leben, als das berüchtigte Viertel Pagfords, weithin lediglich als „The Fields“ bekannt, an einen anderen Bezirk abzuschieben und so sein geliebtes Pagford wieder auf den alten, kleinen und schönen Dorfmittelpunkt zu reduzieren.
Denn in der heruntergekommenen Siedlung scheinen nur chronisch arbeitslose Sozialfälle, Alkoholiker und Junkies zu leben, die den Anderen faul und dreist auf der Tasche liegen und allem Anschein nach nicht einmal versuchen so zu tun, als würden sie sich um Jobs bemühen.
Genau in der Mitte dieses „No man’s land“ im Krieg um den leeren Gemeinderat-Sitz lebt auch die 16-jährige Krystal Weedon, Tochter einer Drogenabhängigen, im heruntergekommensten Gebäude im Umkreis von 20 Kilometern. Sie ist mit ihrer derben Umgangsform im konservativen Pagford zum Synonym für schlechte Manieren, Faulheit, Schmutz, für „The Fields“ generell geworden. Doch unter der harten Kruste liegt ein durchaus weicher Kern. In ihrem täglichen Kampf gegen ihre Lebensumstände verfolgt sie im Grunde nur den Wunsch, zusammen mit ihrem kleinen Bruder ein besseres Leben führen zu können.
Hier liegt dann auch der Hauptstreitpunkt: Die einen wollen den Benachteiligten helfen, die anderen wollen die Drogenklinik schließen und das unschöne Viertel loswerden. Der Konflikt wird mit einer fast religiösen Leidenschaft und Vehemenz ausgefochten, und irgendwann gesellt sich zu den Zielen der beiden Seiten auch das simple Verlangen, den anderen zerstört und besiegt am Boden zu sehen.
Und an weiteren Streitpunkten mangelt es auch nicht im Entferntesten. Die Teenager des Dorfes sind fast alle in irgend einer Weise auf dem Kriegspfad mit ihren Eltern, aus den Verschiedensten Gründen. Die Eltern sind Hypokriten, brutale Idioten, haben ihre Tochter gegen ihren Willen in die Provinz geschleift… und inmitten des hitzigen Wahlkampfes um den leeren Sitz bietet sich das streuen von heiklen Gerüchten besonders an…
Rowling ist mit „Ein Plötzlicher Todesfall“ wieder ein herausragendes Werk gelungen. Wie nur wenige Autoren schafft sie es, eine Szene so zu schreiben, dass man sich wirklich in die Protagonisten hineinversetzen kann. Man bangt, hofft und fühlt mit den Charakteren, will das Buch nicht beiseite legen. Rowling versteht die Gedankengänge eines Teenagers genauso wie die einer alten Dame, sie kann den Leser mit Leichtigkeit genau so mit einem „Sozialschinken“ an die Seiten fesseln wie es sonst nur ein spannender Thriller vermag. Sie erschafft sehr komplexe und glaubhafte Persönlichkeiten, lässt sich nicht von hundertfach vorgekauten Klischees verleiten und trägt das Ganze meisterhaft vor. Die Vielzahl an Charakteren in Rowlings Werk deckt eine große Spannbreite des Klassensystems ab, von der gehobenen Mittelklasse abwärts bis zu den Sozialfällen.
In einem anhaltenden Crescendo wird die Handlung vorwärts getrieben bis zum tragischen Ende, welches unerwartet und überraschend über die Beteiligten herabregnet und ihre Leben auf den Kopf stellt, bei einigen mit positiven Auswirkungen, bei anderen mit völlig verheerenden Folgen.
„Plötzlicher Todesfall“ ist definitiv ein lesenswertes Buch.
Mit ihrer Geschichte des leidenschaftlichen Krieges unter den Bewohner Pagfords übt Rowling strenge Kritik am Klassensystem, seiner Scheinheiligkeit und Heuchelei. Die Autorin steht eindeutig auf der Seite der herablässig behandelten Sozialhilfebezieher, die aus dem sumpfigen Loch der untersten Unterklasse nicht herauskommen. Doch beschönigt wird trotzdem nichts, die abstoßenden Lebensumstände werden nicht im rosa Blühmschenrahmen präsentiert, Rowling ist nicht zimperlich und stellt die Sachen gnadenlos so da, wie sie sind. Das ist wohl auch einer der Gründe, warum ihre Nachricht einen solchen Eindruck hinterlässt.
Eine Sache muss noch gesagt werden: Die Sensationslüsternen unter den Lesern, die ein weiteres episches Feuerwerk an Zauberei und fantastischen, farbenfrohen Wundern und Fabelwesen erwarten, werden mit hoher Wahrscheinlichkeit enttäuscht sein; keine Spur davon ist in Rowlings neuem Buch zu finden. Auch keine einzige Schießerei, Hochgeschwindigkeitsverfolgung oder Explosion findet in dem 500-Seiten starken Werk statt. Nicht einmal eine ordentliche Schlägerei ist da, um den Sensationsdurst einiger „verwöhnter“ Leser zu stillen. Einige meiner Bekannten haben das Buch schon mit der Bemerkung, es sei nicht so spannend, lustig oder actiongeladen wie Harry Potter, wieder aus der Hand gelegt.
Man sollte keinen zweiten Potter erwarten. „Plötzlicher Todesfall“ ist aus einem anderen Holz geschnitzt, es spielt nicht in der selben Liga; trotzdem ist es ein verdammt gutes Buch. Als Debütroman hätte es weit bessere Kritiken erhalten als unter den gegebenen Umständen, wo es jeder mit Rowlings Welterfolg vergleichen will, nur um enttäuscht feststellen zu müssen, dass sich nicht um den achten Harry Potter handelt.
Ich kann es nur jedem empfehlen und ihm nahelegen, es offen und ohne Erwartungen anzugehen, die auf Rowlings vorherigen Werken beruhen.
Hi Esra,
vor ein paar Wochen gab es bei uns im Radio eine Buch-Kritik von „Ein plötzlicher Todesfall“. Das Buch wurde vom Reporter ziemlich zerrissen und Rowling als inzwischen total weltfremd dargestellt. So ein Kommentar macht dann tatsächlich nicht gerade kaufwütig.
Dank Deiner eleganten Buchrezension hat das neue Buch von Rowling in Form der englischen Fassung auf unserm Weihnachtsgabentisch jetzt doch noch eine Chance bei uns bekommen. Wir müssen es allerdings noch lesen, aber ich wette, Du bist der kompetentere Kritiker als irgend so ein Radio-Redakteur.
Um in Eurem Blog aktiv zu werden, musste ich mich jetzt echt auch überwinden. Meinen letzten Blogkommentar habe ich vor ein paar Jahren auch auf Eurer Webseite geschrieben und hatte dann bei 123people gleich eine große Wolke mit REISEN und NORWEGEN. Diese war jetzt gerade wieder leer. Bin jetzt mal gespannt. Es gibt ja schlimmeres als REISEN und NORWEGEN.
Jedenfalls noch viele Grüße und alles Gute an Eure ganze Familie
Birgit
Hallo Esra,
das hast du interessant geschrieben, ich habe richtig Lust bekommen, das Buch mal zu lesen.
HG Gabi