Das Geschenk, welches Josi und ich im August am ersten Tag der Reise von unserer Busfahrerin bekommen, wird man im Nachhinein leicht als Omen oder Vorzeichen deuten können. Josi sollte es die gesamten 2.000 Kilometer auf ihrem Gepäckträger herumfahren, stets bereit, es bei einer Pause am Straßenrand zu entfalten. Es sollte oft von uns benutzt werden, wenn auch nicht während der Fahrt. Es ist schwarz und hat bestimmt nicht viel gekostet, doch an diesem ersten Tag ist es für uns sehr wertvoll. Es ist ein Regenschirm.
Radreise…ohne Fahrräder?
Josi und ich sind gerade am Flughafen in Bergen gelandet. Hier soll sie losgehen, unsere nächste Radtour. Erst wollen wir nach Norden fahren, zum Geiranger-Fjord, dann via Oslo in Richtung Schweden weiter. Fehlt nur noch eins: unsere Fahrräder. Es ist das erste Mal, dass wir mit den Rädern fliegen. Mit viel Aufwand haben wir sie zuhause in riesigen Pappkartons verstaut, haben sie gut gepolstert und die Kartons mit dem Hinweis versehen, man möge sie bitte vorsichtig handhaben. Jetzt machen wir uns natürlich riesige Sorgen, weil sie nicht angekommen sind. Erst am nächsten Tag sollen sie da sein, wird uns gesagt. Uns bleibt also nichts anderes übrig, als uns auf zu unserer Servas-Gastgeberin aufzumachen, und zwar ohne Räder. Wer Servas nicht kennt: es funktioniert genau wie Couchsurfing. Man hat eine Gastgeberliste mit etlichen lieben Menschen, die gerne Reisende aufnehmen. Eine davon ist Jorunn, eine pensionierte Krankenschwester aus Bergen, bei der wir zwei Nächte verbringen.
Auch am nächsten Morgen bekommen wir wieder eine einführende Lektion in die klimatologische Situation an Norwegens Westküste. Wir haben gerade die Räder am Flughafen abgeholt und wieder zusammengebaut, jetzt fahren wir in strömendem Regen in die Innenstadt. Der Regen kommt so intensiv vom Himmel, dass das Wasser nicht schnell genug abfließen kann und bald mancherorts eine Handbreit hoch den Asphalt bedeckt. Für die Westküste Norwegens ist das nicht unüblich, immerhin hat Bergen mehr als 200 Regentage im Jahr und in der Summe etwa dreieinhalb Mal so viel Niederschlag wie Mainz – das meiste davon im August und September. Viel Sightseeing machen wir nicht an diesen Tagen.
Je weniger geplant ist, desto leichter fallen Planänderungen
Nach zwei Nächten in Bergen geht die Tour dann richtig los. Wir fahren nach Norden, wollen an der Westküste entlang zum Geirangerfjord und dann wieder nach Süden Richtung Oslo. Das Wetter ist „besser“ geworden. Es regnet nur noch den halben Tag über, wenn auch sehr intensiv, und ein paar kurze Male sehen wir sogar Sonnenlicht. Trotzdem ist es anstrengend. Das Zelt müssen wir nach der ersten Nacht im Freien nass zusammenrollen, ohne Aussicht auf eine Gelegenheit zum Trocknen. Die Regenklamotten gehören fest zum Outfit. Ein paar Tage lang können wir das sicherlich ohne Murren ertragen, das Radfahren in dieser Landschaft wirkt stark entschädigend. Der Wetterbericht prophezeit allerdings eine geschlagene Woche starken Regen für die Westküste. Wollen wir uns das antun?
Im Landesinneren regnet es generell weniger als an der Küste. Und wir sind autark unterwegs, können also machen, was auch immer wir wollen. Wir entscheiden uns schließlich, diesen enormen Vorteil des Radreisens auszunutzen: wir haben ja nichts gebucht und ändern den Plan einfach. Auf geht’s, direkt nach Westen!
Zu dumm zum Fähre fahren?
Wir entscheiden uns, ein wenig am Sognefjorden, Norwegens längstem Fjord, entlang zu fahren. Dazu müssen wir wieder die Seite wechseln, und mit den Fähren klappt es bei uns nicht so. Unsere erste Überfahrt soll uns an einem regnerischen Samstagabend vom Süd-Ufer ans Nord-Ufer bringen. Am Fähranleger warten wir also, es gibt sogar einen (beheizen!) Aufenthaltsraum und eine Toilette! Darauf sitze ich gerade in aller Seelenruhe, als ich Josi rufen höre: „Esra, wo bist du? Schnell! Die Fähre ist da!“ In aller Eile schaffen wir unsere Räder auf das kleine Schiff, das nur einen kurzen Moment am Anleger verweilt. Während der Überfahrt aber merken wir: das fährt ja gar nicht auf die andere Seite, sondern zu einer kleinen Insel. Mist! Haben wir den Fahrplan nicht richtig gelesen? Auf der kleinen Insel angekommen, studieren wir den verwitterten Aushang am Fähranleger, während die Fähre schon wieder ablegt. Schnell merken wir, dass die Fähre wohl im Dreieck zwischen Süd-Ufer, der Insel, und den Nord-Ufer verkehrt. Wir hätten also nur drauf bleiben müssen! Dazu kommt, dass es schon spät ist, und wir auf der letzten Fähre gekommen sind. Vor dem Morgen kommen wir nicht mehr hier runter.
Wir fluchen und überlegen, wie wir das beste draus machen. Hier ist absolut nichts los am Arsch der Welt, und neben dem Fähranleger steht wieder so ein tolles Häuschen mit Aufenthaltsraum und Toilette. „Sollen wir…?“ fragt Josi. Warum eigentlich nicht. Diese Nacht verbringen wir im Warmen, und das Zelt hängen wir auch zum Trocken auf. Draußen prasselt der Regen gegen die Fenster, ein kalter Wind pfeift um das Häuschen. Zum Glück waren wir heute zu blöd, richtig Fähre zu fahren.
Das Essen wird knapp, und das an einem Sonntag!
Am nächsten Morgen lauert allerdings die nächste Realisation: unser Essen wird knapp, wir sind am Ende der Welt, und es ist Sonntag. Eine suboptimale Kombination von Umständen. Nachdem wir mit der Fähre dorthin übergesetzt haben, wo wir gestern Abend schon hinwollten, suche ich auf Google Maps nach der nächsten Einkaufsmöglichkeit. Eine Tankstelle hat offen, sechs Kilometer abseits von der Straße, die wir eigentlich nehmen wollen. Der Umweg ist es uns wert, wir fahren die sechs Kilometer und müssen dabei einige Höhenmeter bezwingen. Die Landschaft ist allerdings wunderschön, und auf einer Radreise ohne festes Ziel sind ein paar Kilometer mehr ja kein Problem.
Das Problem liegt am Ende der sechs Kilometer: die Tankstelle ist nur insofern „geöffnet“, dass man dort per Karte tanken kann. Essen gibt’s keines. Wir haben absolut nichts mehr zu essen und mächtig Hunger. Wir wägen gerade unsere Optionen ab (es ist eigentlich nur eine: 40 anstrengende Kilometer bis zur nächsten Siedlung fahren) da sehe ich eine Holzhütte mit Menschen davor. Vielleicht wissen die mehr? Es stellt sich heraus, dass hier ein Freilichtmuseum bei einem alten Wikingersteinbruch liegt. Hier wurde vor über tausend Jahren Granatglimmerschiefer abgebaut und gehandelt. Das Gestein ist sehr speziell und besonders gut für Mühlräder geeignet, erklärt uns die Frau an der Rezeption. Ich höre gespannt zu, ich verstehe das geologische Fachchinesisch ja aufgrund meines Studiums. Als wir nach der nächsten Essensgelegenheit fragen, lacht sie. „Also wenn ihr Svela essen wollt, die bekommt ihr bei uns.“
Aber hallo! Svela sind wie Pfannkuchen, nur mit Hirschhornsalz, damit sie fluffiger werden. Und Svela sind lecker! Vor allem, wenn man so einen riesigen Appetit hat. Wir essen sie mit viel Marmelade und Frischkäse und können unsere Reise schließlich gestärkt fortsetzen. Zum Glück hat uns Google in die Irre geleitet, sonst wären wir nicht auf diesen Ort gestoßen.
60 Kilometer Idyll, vier Kilometer Tunnel
Später am selben Tag sind wir wieder am Süd-Ufer des Fjords. Auf dem Weg nach Westen müssen wir immer wieder die Seiten wechseln, um langen Tunneln oder stark befahrenen Straßen aus dem Weg zu gehen. Die Straße, auf der wir gerade sind, ist winzig. Eine Spur, manchmal eineinhalb, und es fahren so wenige Autos, dass wir die Spur fast als persönlichen Radweg empfinden. Der Grund für die Leere: die Straße führt zum 60 Kilometer entfernten Ortnevik, wo sie dann endet. Von dort aus kann man eine winzige Fähre nehmen, die aber nur einmal am Tag verkehrt, jeden Morgen um zehn vor neun.
Wir haben ein bisschen Zeitdruck. Weil wir erst gegen vier auf der Südseite angekommen sind, müssen wir die 60 Kilometer noch in den Rest des Tages packen, damit wir in der Nähe des Fähranlegers zelten können. Es sind diese kleinen Herausforderungen, die jeden Tag des Radreisens spannend machen. Aber wir kommen gut voran. Auf der Strecke liegen zwei Tunnel, zusammen etwas über vier Kilometer lang, die kann man gerne auch zu den Herausforderungen zählen. Da hier so gut wie niemand fährt, haben die Tunnel auch keine Beleuchtung abbekommen. Es sind einfach zwei finstere, kalte Höhlen im nackten Stein. Ein eisiger Wind weht aus ihnen heraus, und sie haben eine unheimliche Akustik, wenn man etwas hineinruft. Es führt kein Weg drum herum, sprichwörtlich und im wahrsten Sinne des Wortes, also machen wir unsere Lichter an, ziehen uns was Warmes drüber und kramen die Warnwesten aus den Taschen. Josi bittet mich, ihr was zu singen, damit die Dunkelheit nicht so bedrückend ist. Ich tue ihr gerne den Gefallen. Der zweite der Tunnel legt sogar noch einen drauf und verfügt über eine stetige Steigung. Aber schließlich sehen wir – wieder sprichwörtlich und wortwörtlich – ein Licht am Ende des Tunnels. Nichts wie raus!
Bald sind wir in Ortnevik, und wir machen wieder Gebrauch vom Jedermannsrecht, welches uns das Campen auf einer Wiese mit Aussicht gestattet. Heute regnet es fast nur in der Nacht, eine angenehme Abwechslung. Am nächsten Morgen sind wir wieder auf einer Fähre.
In Vik steigen wir auf eine weitere Fähre um, doch an der hier ist etwas anders. Sonst kosteten uns die Überfahrten immer 80 norwegische Kronen, das sind etwa elf Euro. Jetzt zeigt das Kartenlesegerät über 600 Kronen an. Josi schaut zweimal hin, bevor sie ihre Karte an das gierige Gerät verfüttert. Der preisliche Unterschied hängt mit dem Ziel der Reise zusammen: Flåm. In dem winzigen Fischerdorf wohnen nur eine Handvoll Seelen, aber in den Sommermonaten mutiert das Idyll zur Touristenhochburg. Das merken wir schon auf der Fähre nach Flåm, die fast überquillt vor gut betuchten Besuchern aus den Staaten und aus Asien.
Nachdem wir aus Flåm raus sind, geht es weiter auf dem „Rallarvegen“. Der Weg führt grob an einer alten Eisenbahnlinie entlang, und sein Zweck war damals, die Eisenbahnarbeiter an ihren Arbeitsplatz zu bringen. Wir haben uns nicht über den Weg informiert, aber ganz am Anfang der 80 Kilometer ruft uns ein entgegenkommender Radfahrer „Respect!“ zu. Andere geben Daumen hoch. Und niemand fährt in die Richtung, in der wir unterwegs sind. Ob das ein Zeichen, eine Vorwarnung ist? Die unablässige Steigung wird nach zehn Kilometern noch steiler und der Asphalt ist hier zu Ende. Worauf haben wir uns hier eingelassen?
Ich mach’s mal spannend: Das erzähl ich euch im nächsten Eintrag 😉