Sommer 2016: Meine Reise über die Alpen nahm ihren Anfang in einem trägen Geoinformatik-Seminar, als mich Falk, ein Kommilitone, fragte: „Sag mal Esra, du fährst doch so viel Rad… hast du Lust, mal die französischen Alpen zu überqueren?“. Ich war zwar noch nie in den Alpen gewesen, doch natürlich sagte ich zu. Ich bin gerne spontan und optimistisch – eine Verhaltensweise, die sich schon auf einigen Radtouren bewährt hat, und ich nun auch anwende, wenn ich nicht gerade auf Tour bin. Ein paar Wochen später saßen wir im Zug zum Genfer See. Unser Ziel war das Mittelmeer, 800 Kilometer weit entfernt. Auf unserem Weg von Lausanne nach Nizza folgen wir meistens der Route des Grandes Alpes. Die höchsten Straßenpässe in den Alpen lagen auf dieser Strecke, Falk hatte beim Planen der Route keinen Pass ausgelassen.
Die Route ist sowohl bei Radlern als auch bei Motorradfahrern sehr beliebt. An sonnigen Tagen haben wir stets viel Gesellschaft. Wir schlafen im Zelt, und das meistens in der freien Natur – kein Problem, solange man seinen Müll wieder mitnimmt und auch ansonsten keine Spuren in der Landschaft hinterlässt.
Alpenpässe – eine neue Art des Radfahrens.
Sechster August 2016: Den ganzen Morgen fahren wir schon bergauf. Über uns steht die pralle Sonne, unter uns erstreckt sich das Tal der Isere, welches mit 2000 Höhenmetern schon höher liegt als so mancher Pass. Die Auffahrt zum Col de L’Iseran, dem höchsten Straßenpass Europas, ist eine langwierige Angelegenheit. Mehr als 40 Kilometer geht es bergauf, bis auf 2770 Meter über dem Meeresspiegel. Doch das viele Kurbeln macht sich bezahlt: zum einen sind da die phänomenalen Aussichten, die einen nach jeder Kurve aufs Neue beeindrucken. Zum anderen gilt ja nach wie vor das Prinzip, dass alles, was raufgeht, auch wieder runter kommt. Die Straße auf der anderen Seite der Passhöhe verläuft nämlich genau so wie die, die wir seit gestern Abend rauf fahren – über 40 Kilometer Abfahrt bereiten uns schon Vorfreude. Ich krame die GoPro aus der Tasche, klemme sie an den Lenker, und den Großteil der nächsten Stunde geht es rasant bergab. Der Tacho zeigt zuvor unerreichte Geschwindigkeiten, jetzt fahren wir mit den Motorradfahrern mit, statt von ihnen überholt zu werden. Die Landschaft wandelt sich in einem Tempo, das ich vorher noch nicht auf einer Radtour erlebt hatte: eine karge Steinwüste auf dem Gipfel, die selbst im August noch mit Schneeresten gespickt ist, metamorphosiert in ein grünes Tal mit drückender Sommerhitze. Unten kommen wir mit einem breiten Grinsen an, das man von Kindern kennt, die gerade zusammen was ausgefressen haben. Der Rausch der Geschwindigkeit hält sich noch ein paar Minuten, wir vergleichen die Höchstwerte auf unseren Tachos und reden darüber, welche Abschnitte und Kurven uns am besten gefallen haben. Lange geht es dann aber nicht auf einer ebenen Talstraße entlang. Der nächste Pass wartet, das Spiel beginnt von vorne.
Ich habe ein Video mit den Abfahrten gemacht. Insgesamt war es über eine Stunde Material, welches wir hier und da gesammelt haben. Die GoPro war nur gelegentlich am Lenker.
Die Besonderheiten des Reiserads
Mit unseren voll beladenen Reiserädern, die mit über 30kg nicht gerade leicht sind, ist die Alpentour eine besondere Herausforderung. Doch wir schaffen die Pässe genau wie die Rennradler auf den leichten Carbon-Rädern, und bei den Abfahrten drückt dafür das Gewicht die Geschwindigkeit noch ein wenig nach oben.
Da wir mit dem Rad unterwegs sind, bekommen wir viel mehr von den Alpen mit als die anderen Verkehrsteilnehmer. Alle Sinne werden aktiv, und man kann jederzeit am Straßenrand halten, um eine besonders schöne Aussicht zu genießen oder etwas Interessantes zu inspizieren. Wir erleben neben den Aussichten auch den Geruch der alpinen Nadelwälder, bei den Abfahrten pfeift uns der Wind um die Ohren, und vor allem spüren wir die Steigungen. Wer eine Reise intensiv erleben will, sollte das Fahrrad nehmen. Auch der Kontakt mit anderen Menschen lässt sich vom Rad aus leicht finden. Oft fahren wir mit anderen Radlern die Pässe auf und plaudern über Reisen, Fahrradmechanik oder die Tour de France. Das ist nur dann problematisch, wenn der andere ein federleichtes Rennrad unter dem Allerwertesten hat und ein ordentliches Tempo vorlegt. Ich gerate einige Male ins Schwitzen, weil ich nicht zurückbleiben und somit das Gespräch beenden will.
Und in den zehn Tagen, die wir von Lausanne nach Nizza brauchen, geschieht es uns sogar gleich zwei Mal, dass uns fremde Leute ihre Gastfreundschaft anbieten, als wir sie nach dem Weg zum nächsten Zeltplatz fragen. Obwohl unsere Gastgeber teilweise kein Wort Englisch sprechen und sich unser Französisch auch nur auf das beschränkt, was man zum Baguette-kaufen benötigt, haben wir eine Menge Spaß.
Wandelnde Landschaften
Mit jeder überquerten Passhöhe, die uns näher an die Küste heranbringt, finden wir eine leicht veränderte Landschaft vor. Waren wir noch in der Schweiz durch dunkle Nadelwälder an kantigen Berghängen gefahren, so werden unsere Aussichten im Laufe der Reise immer mediterraner. Die Erde wird heller, die Formen der Berge ändern sich, sandiger Boden lässt bunte Pflanzen sprießen, und auch an den kleinen Bergdörfern kann man einen Wandel erkennen. Hier macht sich nun die Wahl unseres Studienfaches bezahlt – als Geographiestudent schaut man sich die Welt mit anderen Augen an, und wir versuchen unablässig, uns mit möglichst vielsilbigen Fachwörtern aus der Bodenkunde oder der Geomorphologie zu übertrumpfen. Es macht Spaß, so viele Dinge aus den Vorlesungen in der Landschaft wiederzuerkennen.
Im Laufe der Tour fällt uns auch auf, dass jeder Pass seine eigene „Persönlichkeit“ hat. Manche sind klein und man macht sie zum Frühstück, andere sind von monumentalen Ausmaßen. Der Col du Izoard ist von wunderschönen Gesteinsformationen und gewundenen Straßen geprägt, den Cormet de Roselend fahren wir im Nebel rauf und können uns an den Wolkenfetzen im Nadelwald und dem intensiv blauen Bergsee gar nicht sattsehen. Manche Pässe bringen uns nah an unsere Grenzen, wie der Col du Galibier, der bei der Tour de France ein berüchtigter Widersacher des Pelotons ist. Manche Abfahrten sind rasend schnell, doch manchmal windet sich die Straße auch mit Serpentinen die Berge herunter und wir müssen immer wieder abbremsen. Dadurch werden unsere Felgen gefährlich heiß, wir müssen Pausen zu Abkühlen einlegen.
Mehr als nur Urlaub: Die Wirkung von Bergpässen auf das Selbstvertrauen.
Jeder Pass hinterlässt bei uns seinen Eindruck. Und am Ende merken wir, dass die Reise mehr als eine Reihe sehr spaßiger Abfahrten war. Ich war nämlich vor dem ersten Anstieg sehr nervös und etwas skeptisch gewesen, ob wir wirklich die höchsten Pässe der Alpen knacken könnten. Doch mit jedem Pass, den wir hinter uns lassen, wächst unser Vertrauen in unsere Ausdauer und unsere Beinmuskeln. Wenn wir mit unseren voll beladenen Rädern oben auf der Passhöhe stehen, wo selbst Rennradfahrer stolz vor dem Schild mit der Höhenmeterangabe posieren, sind wir wirklich stolz auf unsere Leistung. Es ist die Zufriedenheit einer bewältigten Herausforderung, die zuvor geradezu einschüchternd gewirkt hat. Und dieses Gefühl gibt uns beiden auch eine andere Sichtweise auf Probleme und Herausforderungen mit. Denn jetzt erwische ich mich tatsächlich manchmal beim Gedanken „Hey, Esra, du hast die höchsten Pässe in den Alpen bezwungen – dann schaffst du jetzt auch diese Hausarbeit“.
Schließlich erreichen wir unser Ziel, Nizza. Und werden prompt enttäuscht. Touristenmengen weit und breit, Preise die an Raub grenzen, und ein Hotel, das in jedem kitschigen Krimi als Fundort einer Drogenleiche dienen könnte. Wir sind offensichtlich verwöhnt von den Alpen, und müssen nun hier ausharren, bis uns der Nachtzug nach Hause bringt. Wir fahren nach Monaco, das liegt ja nur 25 Kilometer im Osten, doch das füllt nur einen Vormittag. Viel zu tun gibt es nicht in Nizza, außer sich an den Strand zu setzen und mal einfach nichts zu machen. Aber vielleicht brauchen wir auch gerade das, nach unserer Alpentour.