Mit dem Rad durch Südnorwegen – wie Esra & Josi im Sommer das Fjell erkundeten
Eine 1600 Kilometer lange Rundreise mit Rad und Zelt war letzten August das Beste, was uns trotz Coronapandemie eingefallen ist. Also packten wir spontan die Radtaschen und zogen los, so lange das Reisen möglich war.
Josis Liebe zu Höhenmetern
Es ist August, und obwohl wir in Norwegen sind scheint uns bei 27 °C die Sonne auf die Fahrradhelme, während wir langsam das Gauset-Tal am Fuße des Hardangervidda-Bergplateaus hinter uns lassen. „Ich liebe es, Berge hochzufahren!“ teilt mir Josi mit, sichtlich außer Atem. Alle Indizien der bisherigen drei Tage auf Tour sprechen entschieden gegen diese Aussage, doch sie beharrt darauf. Sie wolle ihre Sichtweise auf Anstiege ändern, und als ersten Schritt hat sie beschlossen, nicht mehr negativ auf steile oder langwierige Bergstraßen zu reagieren. Stattdessen ruft sie ab jetzt jedes Mal, wenn sich ein besonders fieser Abschnitt nach einer Kurve präsentiert „Ah, super!“ oder „Da freu ich mich drauf.“
Was als humorvoller Selbstbetrug startet, entfaltet bald eine unerwartet performative Wirkung. Nach ein paar Tagen kann ich ihr fast glauben, dass sie gerne mit mir Steigungen hochfährt. Es hilft natürlich, dass Berge hochzufahren tatsächlich einige schöne Seiten hat: Wir sehen innerhalb von 20 Kilometern einen Landschaftswechsel von dichten Wäldern zur kargen subpolaren Bergtundra, was sehr spannend zu beobachten ist. Oben angekommen breitet sich die stolze Genugtuung nach getaner Arbeit aus, wenn wir weit ins Tal hinabschauen, aus dem wir kamen. Dann sind da die Aussichten, die wir als hügelscheue Radler nicht genießen könnten. Und natürlich die langen, rasanten Abfahrten, die nochmal ein ganz eigener Spaß für sich sind.
Doch zurück zum Gauset-Tal: wir fahren den Anstieg rauf, weil wir nach unserem Start in Oslo zur Hardangervidda wollen, dem größten Bergplateau Europas. Unsere Route lassen wir spontan entstehen, und diese Routen-Idee kam uns am Tag zuvor. Was wir oben vorfinden werden ist kalkuliert ungewiss – zwar endet die Straße irgendwann im Nirgendwo, doch es soll einige vielversprechende Pfade jenseits der Schotterpisten geben. Der Anstieg ist mit all unserem Gepäck ausgesprochen anstrengend, einmal entscheidet sich Josi sogar für ein zehnminütiges Nickerchen am Straßenrand, um Kräfte zu regenerieren. Damit vorbeikommende Autofahrer die Szene nicht als Notfall interpretieren, stehe ich bereit, um Josi aufzuscheuchen, falls sich Motorengeräusche nähern. Aber hier fährt zum Glück sowieso kaum jemand entlang.
Wir erreichen 1.000 m über dem Meer, hier ist Schluss mit Bäumen und das Sonnenlicht geht mittlerweile auch rapide zur Neige. Woran es nicht im Geringsten mangelt sind Stechmücken – die karge, sumpfige Landschaft brütet diese Biester in raren Mengen aus. So haben wir zwar einen wunderschönen wild liegenden Zeltplatz, können ihn aber nicht genießen, ohne gefressen zu werden. Unser Mückenschutzmittel stemmt sich vergebens gegen die Wolke aus Mücken, uns bleibt nur der taktische Rückzug ins Zelt. Egal, wir sind sowieso todmüde, also essen wir schnell was und gehen früh ins Bett.
Kann man sich eigentlich verfahren, wenn der Weg das Ziel ist?
Am nächsten Morgen bringen wir die letzten hundert Höhenmeter hinter uns und genießen das herrliche Wetter in dieser eigentlich unwirtlichen Landschaft. Die mickrige, gekrümmte und vor allem karge Vegetation lässt uns wissen, dass hier normalerweise nicht 27 °C bei blauem Himmel herrschen. Viele Norwegerinnen und Norweger hat es an diesem Augusttag auch aufs Fjell verschlagen, die Menschen wandern, fahren zu ihren Booten auf den Bergseen oder sammeln Moltebeeren.
Wir sind nicht auf der Suche nach Beeren, sondern nach einem Weg, der uns Richtung Westen führt. Geduldig fahren wir die Schotterstraßen ab, finden aber statt weiterführenden Quad-Wegen (die auf einigen Karten eingezeichnet waren, und auf denen wir sicherlich 20 mühselige Kilometer bis zur nächsten befestigten Straße geschafft hätten) nur schlammige Wanderpfade. Hmm. Die andere Option, einen der größeren Seen hier oben per Fährservice auf einem kleinen Boot zu überqueren, scheitert an der Aussage eines Wanderers, dass am anderen Ende des Sees seines Wissens nach auch keine weiteren Wege existieren.
Tja. Das hätten wir wohl besser recherchieren können. Mir macht es nicht so viel aus wie Josi, dass wir eine Sackgasse hochgefahren sind. Da unser Start- und Endpunkt Oslo ist und wir sowieso einfach eine große Rundtour aus Spaß am Radfahren machen, sind ein paar Extrakilometer keine Tragödie. Josi sieht das anders: „Wenn ich schon über tausend Höhenmeter hochfahre, dann soll das gefälligst auch irgendwo hinführen! Du willst mir nicht sagen, dass wir den ganzen Anstieg von gestern jetzt wieder runterfahren können?!“
„Ähm… doch. Tut mir leid, ich dachte…“
„Dann hast du falsch gedacht!“
Viel erfreuter wird Josi nicht, als ich ihr auf der Karte zeige, dass wir einfach das „falsche“ Tal hochgefahren sind, und dass das nächste Tal, fünf Kilometer weiter östlich, auf eine schöne asphaltierte Straße über das Fjell führt. Meine einzige Verteidigung ist: „Du hast doch gesagt, Du liebst jetzt Höhenmeter?“
Nachdem ich also gelernt habe, dass Josi die Höhenmeter nur unter der Kondition liebt, dass diese auch irgendwo hinführen, gebe ich mein Bestes, die Route vorsichtiger zu planen. Die Tage auf dem Fjell sind wunderschön, wir haben durchweg das beste Wetter und genießen grandiose Aussichten hinter jeder Kurve. Jeden Tag sammeln wir im Schnitt 1.500 Höhenmeter, weil die Straßen immer wieder vom Plateau herunter und sofort wieder rauf führen, aber wir machen auch viele Pausen und finden sogar zahlreiche Gelegenheiten, in Flüssen oder Bergseen zu baden. Das eiskalte Wasser ist aber nur durch die unnatürlich hohe Umgebungstemperatur irgendwie erträglich.
Da die Hardangervidda für einen Großteil des Jahres eine lebensfeindliche Schneelandschaft ist, ziehen es die meisten Menschen vor, sie zu besuchen, statt auf ihr zu leben. Private Ferienhütten sehen wir überall, als wären sie mit einem gigantischen Pfefferstreuer entlang der befahrbaren Wege verstreut worden. Dauerhaft bewohnte Siedlungen sind andererseits eine Seltenheit, und nur hie und da in Tälern zu finden. Das Fernstraßennetz ist ebenso geprägt von seiner Umwelt und daher nicht unglaublich komplex – um die Fjordlandschaft im Westen zu erreichen, haben wir genau eine Straße zur Auswahl: Die E7. Doch obwohl wir uns tagelang auf der einzigen Verkehrsader weit und breit bewegen, ist das Radfahren hier entspannt, Autofahrer lassen fast alle beim Überholen reichlich Platz, und manchmal werden wir bei steilen Steigungen angefeuert oder bekommen einen Daumen hoch von den Kollegen auf dem Motorrad.
Unliebsame Mitteilungen
Unsere Freude, dass wir hier so ungestört Radfahren können, wird von einem großen Schild in der kleinen Ortschaft Haugastøl ausgelacht. Zynisch teilt uns das Schild mit, dass in 50 Kilometern mehrere Tunnel kommen werden, die für Radfahrer gesperrt sind, und dass die Radwege um die Tunnel herum wegen Steinschlag gesperrt sind. Alternativen gibt es keine, abgesehen von einem mehrere hundert Kilometer langen Umweg mit groben Schotterpisten und der Option, 200 Kilometer zurück zu fahren, wo wir herkamen. Super! Wir spazieren in das Hotel, welches neben dem unerfreulichen Schild steht, und erkundigen uns an der Rezeption nach der Lage. „Ach, das steht da schon seit ein paar Jahren, ich weiß nicht, ob das jemals behoben wird“, teil uns die Dame mit.
Wir entscheiden uns, die Lage bei einem Kaffee zu reevaluieren. So viel wir die Landkarte auch drehen und wenden, es tauchen einfach keine weiteren Straßen auf ihr auf, und Google Maps beharrt ebenso stoisch darauf, dass wir doch einfach einen kleinen Umweg von vier Tagen nehmen sollen. Da wir aber die Fähre nach Hause bereits gebucht haben und deswegen in zweieinhalb Wochen wieder in Oslo sein müssen, können wir nicht auf gut Glück eine halbe Woche an Umwegen einbauen. Während wir so die Karte studieren und das Schild verfluchen, hören wir das Klicken von zwei sehr teuren Fahrrad-Freiläufen näherkommen. Das Geräusch gehört zu zwei obszön teuren Rennrädern, deren Fahrer aus der „verbotenen“ Richtung kommen und genau wie wir eine Kaffeepause einlegen wollen.
„Könnt ihr uns vielleicht etwas über die Situation mit dem gesperrten Radweg sagen?“ frage ich die beiden, nachdem ich ein Kompliment in Richtung ihrer leichten, eleganten Karbonräder gemacht habe (nach einer Weile auf einem vollbeladenen Reiserad lösen solche Rennräder sehnsüchtige Gefühle in mir aus).
„Ach, das mit den Tunneln ist schon länger so“ kommentiert einer der beiden und bestätigt, was die Rezeptionistin sagte. „Aber ihr habt sicher Licht dabei, oder?“
Er erklärt uns, dass der Radweg tatsächlich einer Schutthalde in einem Steinbruch gleicht, und nur mit gewissen Kletterkünsten und einer Portion Risikofreude passierbar ist. Die eigentlich für Fahrräder gesperrten Tunnel, andererseits, seien zumindest Richtung Westen kein Problem für uns. „In den Tunneln gilt ein Tempolimit von 50 km/h, und nach Westen sind die durchgehend abschüssig, sodass ihr das Tempo locker halten könnt. Nur bergauf würde ich das nicht empfehlen.“ Die beiden sind heute mit ihrem Auto durch die Tunnel hochgefahren, um auf dem Fjell Rad zu fahren, doch sie sind beide auch schon die Abfahrt mit dem Rad gefahren.
Diese Information ist genau das, was wir hören wollten. Das miesepetrige Schild können wir also getrost ignorieren und unsere Reise wie gehabt fortsetzen. Es folgen noch ein paar Dutzend Kilometer durch die teilweise noch mit Schneeteppichen gespickte Berglandschaft, bevor sich vor uns das Måbødal eröffnet. Wie ein großer Riss klafft es in dem Bergplateau und offenbart tiefe Blicke in eine enge Tallandschaft, in der es wieder Bäume, Felder und Blumen gibt. Die nächsten 30 Kilometer versprechen, sehr mühelos zu werden (dieser Aussage möchten unsere Bremsen vehement widersprechen).
Auf zum nähsten Abschnitt der Reise: die Fjordlandschaft.
Auf dem Weg nach unten, der sich mit dem Worten „viel Wind im grinsenden Gesicht“ gut zusammenfassen lässt, kommen wir noch an einer Sehenswürdigkeit vorbei, die in direktem Zusammenhang zu dem steilen Tal steht: der Vøringsfossen . Dieser Wasserfall zeichnet sich durch seine Höhe von über 160 Metern aus, von der er tosend in eine Schlucht fällt. Wir legen hier eine kleine Pause ein und genießen die exquisite Aussicht zusammen mit etwas weniger exquisiten Speisen (Knäckebrot und Dosenfisch), bevor wir uns in die Tunnel wagen. Mit jeweils zwei hellen Rückleuchten am Rad, einer Warnweste auf dem Rücken und mit kalter, klammer und muffiger Tunnelluft in der Nase fahren wir durch die Röhren, die uns am Tag davor so ein Kopfzerbrechen bereitet haben. Wie ein Korkenzieher windet sich einer der Tunnel in die Tiefe, insgesamt weicht der Gradient der Straße nicht signifikant von abschüssigen 8% ab. Wir lassen die Finger von den Bremsen und rauschen ins Tal.
Im Nu sind wir also am Ufer des Eidfjords. Gerade haben wir noch von der Tundra aus ins tiefe Tal geschaut, jetzt stehen wir unten und begutachten die kolossalen, nackten Granitwände, die überall um uns herum in die Höhe ragen. Kaum zu glauben, dass wir gerade erst da oben standen. „Jetzt wird es wahrscheinlich erstmal viel flacher für uns, wir fahren ja nur am Fjordufer entlang“ informiere ich Josi mit einem ahnungslosen, fehlgeleiteten Optimismus.